der Zeitgeist ist ein wahrlich flüchtiges Geschöpf. Eben noch hier, ist er schon wieder fort. Heute noch frisch, ist er morgen verschrumpelt. Das gilt besonders da, wo der Zeitgeist sein wahres Domizil hat: in Marketing, Mode oder Werbung. Denn permanent will er hier „updaten“, „relaunchen“, ja die Dinge ganz neu erfinden: Das gilt für Joghurtkulturen, Herrenkosmetik, zuweilen sogar für Identitätskonzepte. Nichts ist so alt wie der Slogan von gestern. Und wer die Erneuerung verpasst, fällt schnell hinten runter. Man nehme nur einmal die AfD. Dort hat man sich vor Wochen dazu entschlossen, mit drei einfachen Begriffen in den Bundestagswahlkampf 2021 zu ziehen: „Deutschland. Aber normal“. Drei Worte, auf deren Grundlage die Partei anschließend einen kleinen Werbefilm gedreht hat: Früher, heißt es darin, sei „normal“ etwas Langweiliges gewesen. „ Stinknormal und spießig“, so erklärt es eine Stimme aus dem Off. Heute aber, wo die Welt angeblich so verrückt geworden ist, hat sich die Sache umgedreht: „Wir merken auf einmal, dass normal etwas ganz Besonders ist.“ Das Problem ist nun aber dieses: Während die AfD noch für das gute alte „Normal“ wirbt, setzt der Rest der Welt schon auf das „neue Normal“. So wie man ja auch heute nicht einfach mehr auf Duschgel schwört, sondern das Duschgel am besten gleich neu erfindet. Dabei ist doch selbst die „neue Normalität“ längst schon zu einem alten Hut geworden und keineswegs noch das „heiße Ding“, mit dem manch ein Gesundheitspolitiker seit einem Jahr um die Häuser zieht. Schon nach dem Platzen der Dotcom-Blase sprach der amerikanische Investor Roger McNamee von einem „New Normal“; und nach der Finanzkrise 2008 war die Redewendung auch sehr en vogue. Wenn aber das „neue Normal“ schon derart alt ist, wie alt ist dann erst das alte? Welche Fragen sich sonst noch stellen nach genauer Durchsicht der AfD-Kampagne, darüber hat sich Cicero-Volontär Ulrich Thiele ein paar interessante Gedanken gemacht. Vollkommen normal übrigens, um bei dem trendigen Wort noch ein wenig zu verweilen, scheint es mittlerweile geworden zu sein, dass Politiker bereits im Juli darüber nachdenken, wie sie Kinder im Herbst wieder in den Wechselunterricht schicken können. Von Spahn bis Lauterbach wird derzeit lauthals räsoniert. Und das, obwohl eine Ifo-Studie jüngst herausgefunden hat, dass Kinder, die ein Drittel eines Schuljahrs verpasst haben, mit einem drei bis vier Prozent geringeren Einkommen rechnen müssen. Für unsere Redakteurin Uta Weisse scheinen die Konsequenzen aus derlei Zahlen sonnenklar zu sein: „Haltet die Schulen offen!“, lautet der Appell, den Weisse nicht nur an Politiker und Lehrer, sondern letztlich an alle Erwachsenen ausgibt. „Während wir Erwachsene uns über unkompliziertes Reisen und weitere Lockerungen freuen, sollten wir im Hinterkopf haben, wer dafür im Herbst gegebenenfalls die Rechnung zahlt“, schreibt Weisse in ihrem Zwischenruf zur aktuellen Debatte. Bleibt zu hoffen, dass auch diese Zeitgeisterscheinungen weitestgehend flüchtig bleiben und niemals so wirklich normal werden. Ihr Ralf Hanselle, stellvertretender Chefredakteur |