Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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22. November 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
„wir sind nicht der Ersatzspieler für die Komplettausfälle in (der) Regierungsmannschaft“, donnerte der Oppositionsführer. Und eine Meinung über die FDP hatte er auch: „Im Fall von Neuwahlen (wird) die politische Zukunft des Landes ohne Liberale stattfinden.“ Nein, das war nicht letzte Woche, und der Donnerer hieß auch nicht Friedrich Merz. Man schrieb vielmehr den Dezember 2011, der Oppositionsführer war Frank-Walter Steinmeier, den es 2017 ins Präsidentenamt verschlagen hat, wo er nicht mehr donnert, nur sehr gelegentlich gegen missliebige Schriftsteller. Die Regierung damals wurde von Angela Merkel geführt. Die schwarz-gelbe Koalition stellte sich seinerzeit mindestens ungeschickt an, und manche rechneten mit einem Auseinanderbrechen dieses Bündnisses. Geschah dann zwar nicht. Aber wenn man heute nachliest, was damals – und nicht nur 2011 – über das Schicksal von Koalitionen gesagt wurde, fällt einem ein: Panta rhei, alles fließt. Und außerdem fließt manchmal auch viel im Kreis herum.

Im Kreis herum fließt zum Beispiel das Schicksal der FDP. 2013 floss sie mit 4,8 Prozent aus dem Bundestag, was ihr 2025 durchaus wieder passieren kann. Diesmal hätte der Oppositionsführer zwar gerne, dass die politische Zukunft des Landes weiter mit den Liberalen stattfindet, weil es für die Union angenehmer wäre, die FDP in der Regierung zu haben und nicht die Grünen. Es könnte ja sein, dass es mit der SPD allein nicht reicht. Außerdem ist die Neigung vieler Sozialdemokraten, sich nach dem Februar dem Blackrock-Merz unterzuordnen, nicht sehr ausgeprägt, zumal an dessen Seite dauernd Markus Söder kubickihaft schimpft. Söder wird sich nach der Wahl verhaltenstechnisch seinem Vorbild Franz Josef Strauß weiter annähern und aus München den Nebenkanzler machen („Ohne mich gibt es keine Regierung“).

Wegen panta rhei hier ein paar nicht sehr originelle Voraussagen: 1) Friedrich Merz wird der nächste Kanzler. 2) Es gibt eine Koalition zwischen Union und SPD. 3) Wenn eine weitere Partei nötig ist, werden das nach langen Verhandlungen die Grünen werden. (AfD und BSW scheiden aus.) 4) Die FDP fließt wieder mal aus dem Bundestag. Die Linke auch. 5) Sollte es zu dem kommen, was früher „große Koalition“ genannt wurde, erübrigt sich spätestens dann das Scholz-Problem für die SPD, weil Scholz nicht „unter“ Merz Vizekanzler sein will. Dann übernimmt Pistorius, der so unscholzig nicht ist. 6) Weil das Volk als solches unberechenbar ist, muss man ein wenig damit rechnen, dass die Aiwanger-Partei im Süden und die Linkspartei im Osten Direktmandate erringen könnte. Die FDP sicher nicht.

Für die politischen Imkreisherumfließer sind Fußballmetaphern immens wichtig. Steinmeier wollte 2011 nicht der „Ersatzspieler“ in der schwarz-gelben Koalition sein, Merz sagt 2024, er wolle nicht den „Auswechselspieler“ für die Liberalen in der kaputten Ampel geben. Für Merz ist eingewechselt werden eher negativ, Robert Habeck aber gewinnt der Ersatzbankbegrifflichkeit Positives ab. Er nannte sich im August selbst einen „Einwechselspieler“, und zwar in einer Mannschaft, die 4:0 hinten liege. Damit wollte er nicht nur auf seine Bereitschaft hinweisen, Spitzenkandidat der Grünen zu werden, sondern auch auf seine selbst empfundene Fähigkeit, das Spiel noch zu drehen. Nun hatte Habeck zweifelsohne großen Anteil daran, dass seine Mannschaft hinten liegt – und zwar als von Anfang an dirigierender Feldspieler. Dass einer vom Anpfiff an mitspielt und dann, wenn es sehr brenzlig ist, noch einmal eingewechselt wird, deutet auf eine Doppelexistenz hin, auf Dasein und Wegsein zur selben Zeit. Es muss also den Robert und den Habeck geben, der tagsüber aussieht wie eine Zweieinigkeit, sich montags und freitags gegen 17 Uhr sowie vor Parteitagen aber in zwei Existenzen scheidet: den Feldspieler und den Auswechselspieler, den Dichter und den Minister, den Selbstzweifler und den So-machen-wir-das-Mann. Die Älteren erinnern sich noch an Hans-Dietrich Genscher, dem als Außenminister auch die Fähigkeit nachgesagt wurde, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein. Bei Genscher war es nur eine Vervielfachung der Örtlichkeit, bei Habeck ist es möglicherweise eine Daseinsmultiplikation.

Daseinsmultiplikation würde auch erklären, warum es überhaupt zu einer Neuwahl kommt: Die Ampel war meistens zur selben Zeit da und weg.

Den Fußballpolitikern, zumal denen mit Tormetapherndrang, möchte man unbedingt raten, den Ball flach zu halten. Markus Söder zum Beispiel erläuterte vor fast fünf Jahren seine Personalpolitik so: „Das ist wie im Fußball: In der zweiten Halbzeit verstärkt man sich mit neuen und frischen Kräften.“ Damals bezog sich das auf den 70-jährigen Horst Seehofer, der immer noch zu Söders Missfallen in Merkels letztem Kabinett als Innenminister herumhing. Seehofer verstand gut, wen Söder, der Mitspieler ohne größere empathische Anfälle auswechselt, damit meinte und sagte wenig später: „In meinem Alter ... müssen Sie täglich nach dem Aufstehen prüfen, ob Sie noch im Amt sind.“ Andererseits weiß man, dass gerade die CSU als solche zu chaotischen Wechseleien an ihrer Spitze neigt. Streibl, Stoiber, Huber und Seehofer haben es erlebt: Heute noch auf stolzen Rossen, morgen (vom Nachfolger) durch die Brust geschossen. Söder, so ist zu vermuten, könnte Ähnliches erleben, wenn seine zweite Halbzeit angepfiffen wird. Diesen Pfiff hören die Hauptbetroffenen zumeist erst, wenn ihr politisch letztes Spiel schon läuft.
Kurt Kister
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