Die Olympia-Spezialausgabe am Mittwoch, dem 7. August
von Fabian Scheler Sportredakteur ZEIT ONLINE
Ich bin 33 Jahre alt und erinnere mich an keine Olympischen Spiele, an denen Timo Boll nicht aufgeschlagen hat. Tischtennis habe ich selbst wie Millionen andere Menschen als Kind in der Einfahrt meiner Eltern oder hier in Berlin nach dem Feierabend gespielt, aber was Boll (280 Prozent Sehfähigkeit) jahrzehntelang in der gleichen Sportart mit diesem kleinen Ball angestellt hat, fühlte sich für mich an wie meine Pasta gegen die einer italienischen Nonna. Er bot den Chinesen Paroli. Und weil Boll auch noch ein Sportsmann war, der Punkte verschenkte, die er zu Unrecht zugesprochen bekam, wird er für immer einer der größten deutschen Sportler meiner Gegenwart sein. Seit der 0:3-Niederlage gegen Schweden im Mixed-Team-Viertelfinale gestern ist seine olympische Karriere zu Ende und ich werde heute an unserer Platte im Büro meine Netzroller Boll widmen.
Dieter Baumann 1992. Nils Schumann 2000. Und wenn Sie die deutsche Brille kurz absetzen: Cole Hocker 2024. Wie die beiden deutschen Mittelstreckenläufer bei ihren Goldläufen, wich auch der US-Amerikaner vom Skript ab. Der Leichtathletik-Weltverband postete vor dem 1.500-Meter-Rennen ein TikTok mit der Frage: „Seid ihr Team Jakob Ingebrigtsen oder Team Josh Kerr?“ Deren Rivalität ist nämlich legendär. Der Norweger Ingebrigtsen sagte, er schlage den Schotten Kerr blind, wenn er fit ist. Der wiederum gab zu bedenken, Ingebrigtsen habe Schwächen auf der Bahn und bei den Umgangsformen. Im Rennen war Ingebrigtsen dann 1.425 Meter damit beschäftigt, Kerr von vorne mürbe zu laufen. Doch auf der Zielgeraden ließ er innen eine kleine Lücke offen, durch die Hocker lief und eine sensationelle Goldmedaille gewann. Kerr wurde Zweiter, Ingebrigtsen sogar nur Vierter. „Gott trug mich über die Linie“, sagte Hocker der BBC. Nach Jesus’ Gang übers Wasser der vielleicht zweitwichtigste Beistand von oben. Dreieinhalb Minuten, die Sie sehen sollten.
Wer wird heute wichtig?
Männer und die ewige Frage, ob sie eine Bereicherung sind. Im Teamwettbewerb des Synchronschwimmens gibt es heute Medaillen. Bei diesen Spielen ist es erstmals erlaubt, dass Männer mittauchen, mitwerfen und mitgrinsen. Gerade in der hebe- und wurfintensiven Teildisziplin akrobatische Kür könnte man sie gut einsetzen. Sagen die Schwimmerinnen. Doch vorerst bleiben die unter sich. Denn nach den beiden anderen Disziplinen, die in die Wertung einfließen, darf das Personal nur im Krankheitsfall getauscht werden. Und in diesen beiden anderen Übungen sieht es mit Männern aus wie beim gemeinsamen Geburtsvorbereitungskurs. So jedenfalls klingen die Sätze der Profis, also von Frauen wie Keana Hunter aus den USA: „Unglücklicherweise war noch keiner so weit, richtig gut zusammen performen zu können. Aber ich freue mich auf die Zukunft.“
Sie müssen sich verhalten zur l’amitié franco-allemande, der deutsch-französischen Freundschaft, festgehalten im Élysée-Vertrag von 1963. Sowohl die Basketballerinnen (18 Uhr) als auch die Handballer (13.30 Uhr) treffen im Viertelfinale auf die Gastgeber. Im Frauenhandball (gestern) sowie im Männervolleyball (vorgestern) setzte sich jeweils Frankreich durch. Deutsche Unwägbarkeiten, die von französischer Seite einst wegen Willy Brandts Ostpolitik befürchtet wurden, gibt es dennoch. Die deutschen Handballer sehen gefährlicher aus als bei der EM im Januar, bei der Frankreich in Deutschland den Titel gewann. Und die deutschen Basketballerinnen haben bei ihren ersten Olympischen Spielen nach den Überraschungssiegen gegen Belgien und Japan ihre Außenseiterdemut abgelegt. Danach kann man sich ja immer noch wie einst Charles de Gaulle und Konrad Adenauer in der Kathedrale von Reims zur Versöhnungsmesse treffen.
Ins Boot steigt heute der Kanute Sebastian Brendel. Der 36-jährige Brandenburger gewann 2012 und 2016 dreimal olympisches Gold, eines davon im Zweier-Canadier. Dieses Mal tritt er wieder solo an und will noch eine Medaille. Heute ist sein Vorlauf (11.40 Uhr), am Freitag sind die Finals. Und Brendel ist Linksschläger, was keine Info über seine Qualitäten im Kneipennahkampf ist.
Am Abend gehen die Blicke erneut ins Olympiastadion. Joshua Hartmann wäre nach Tobias Unger 2004 in Athen der nächste Deutsche, der es in ein olympisches 200-Meter-Finale schafft. Dafür muss er sein Halbfinale (20 Uhr) überstehen und vielleicht gibt ihm der 100-Meter-Olympiasieger Noah Lyles von der Bahn nebenan ein bisschen Windschatten. Auch die beiden 400-Meter-Hürden-Läufer Joshua Abuaku und Emil Agyekum laufen um einen Finalplatz (19.35 Uhr). Clemens Prüfer hat es als einziger Deutscher ins Diskusfinale (20.25 Uhr) geschafft, hat dort aber genau wie Anjuli Knäsche im Stabhochsprung nur die Chance auf eine große Überraschung.
Die verschwundene Sportart
Softball führt eine olympische On-off-Beziehung. Baseball (Männer) war olympisch von 1992 an, Softball (Frauen) von 1996 bis 2008. Dann flogen beide Sportarten erst mal raus. Weil der Sport in Japan aber so beliebt ist und weil der Gastgeber dem IOC-Politbüro Sportarten vorschlagen darf, wurde in Tokio 2021 wieder gehittet und gehomerunt. Clever von den Japanern, sie gewannen (in der japanischen Interpretation des Sports) sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen. In Paris ist Softball nicht dabei, für Los Angeles wiederum kehren Softball und Baseball erneut zurück. Das verstehe einer. Wichtigste Aufgabe für die World Baseball Softball Confederation wird es also sein, Förderprogramme in Australien aufzulegen, und den Sport dort so populär zu machen, dass er unverzichtbar für Brisbane 2032 wird.
Das IOC-Mitglied des Tages
Ein Spross der Werthein-Dynastie, einer der geschäftstüchtigsten und somit reichsten Familien Argentiniens: Gerardo Werthein. Er durfte die Versicherungsholding der Familie leiten und war Vizevorstand bei der Telecom Argentina. Von 2009 bis 2021 war der frühere Reiter und Tierarzt Präsident des argentinischen Olympischen Komitees, seit 2011 sitzt er im IOC. Dort häufte er weitere Ämter an und ein Satz zur Wiederwahl von Thomas Bach 2020 lässt ahnen, wie er das geschafft hat: „Keiner ist besser als Sie!“ Er organisierte auch den IOC-Kongress 2013 in Buenos Aires, auf dem Bach das erste Mal zum Präsidenten gewählt wurde. Sein Geschäftssinn und die Spiele lassen sich wunderbar vereinen: An den Jugendspielen 2018, die in Buenos Aires stattfanden und auf wundersame Art und Weise sehr viel teurer wurden als angekündigt, sollen manche seiner Firmen sehr gut verdient haben. Seinen bisher letzten großen Auftritt hatte Werthein, als er vom argentinischen Präsidenten Javier Milei zum argentinischen Botschafter in den USA ernannt wurde und ein Treffen von Milei mit Elon Musk arrangierte.
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Die Zitate des Tages
"Er bekommt jetzt einen ganzen Eimer Möhren."
Zunächst war nur eine Möhre vorgesehen, doch der Springreiten-Olympiasieger Christian Kukuk erhöhte die Siegprämie für sein Pferd Checker 47. Und er bedankte sich bei Bayern-Profi Thomas Müller, dem Checker 47 gehört.
"Meinetwegen ist es ganz einfach: Wer positiv auf Doping getestet wurde, sollte nie wieder starten dürfen."
Sagt der erfolgreichste Olympionike der Geschichte der Spiele, der US-Schwimmer Michael Phelps.
Das Bild des Tages
Der Fotograf Sebastian Wells ist während der Olympischen Spiele exklusiv für ZEIT ONLINE in Paris unterwegs. Wir zeigen hier jeden Tag ein besonderes Bild vom Vortag. Heute das von Dennis Schröder, der als Kapitän der Basketballer den Sieg über die Griechen und damit den ersten olympischen Halbfinaleinzug einer deutschen Basketballmannschaft jemals mit ein paar Popcorn feiert. Dennis, einer von uns!
20.19 Uhr und 20.49 Uhr: Damen, Fliegengewicht, Kämpfe um Bronze
20.34 Uhr und 21.04 Uhr: Herren, Fliegengewicht, Kämpfe um Bronze
Das war die heutige Spezialausgabe unseres Was-jetzt?-Newsletters zu den Olympischen Spielen 2024. Nicht mehr lange, und die Spiele sind wieder Geschichte. Besser also, man hat schon jetzt einen Plan für danach. So wie Simone Biles, die mit anderen Turnern bis November auf Tournee geht. Die “Gold over America Tour“ (abgekürzt: GOAT) macht Halt an den 30 schönsten Arenen der USA wie dem TD Garden in Boston. Falls Sie vom Turnen einfach nicht genug kriegen: Der Deutschland-Pokal im Geräteturnen (weiblich) findet vom 18. bis 20. Oktober in Esslingen-Berkheim statt.