Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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9. Juni 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
neulich nach dem Bügeln dachte ich an Oscar Wilde. Auf dem TV-Schirm – ich schaue beim Bügeln meistens ältere Serien, auf DVD gebrannt, weil ich ein älterer Mann bin – lief eine Folge von „Gotham“. Zwischen 2014 und 2019 entstanden fünf Staffeln dieser Serie, in der Bruce Wayne, das Alter Ego von Batman, ein Teenager ist. Viele, die im späteren Leben Batmans eine Rolle spielen, vom Polizeichef Jim Gordon über den Großverbrecher Pinguin bis zu Alfred, dem Butler, kommen in „Gotham“ vor. Die Serie ist spannend, gut gemacht und sehr unterhaltsam.

Würde ich Neusprachwörter wie „ikonisch“ oder „Dystopie“ nicht aus nahezu religiösen Gründen ablehnen, würde ich schreiben, „Gotham“ spielt in einer genauso bunten wie düsteren, dystopischen Welt. Und „Gotham“ ist alles andere als Trash. Sollten Sie glauben, so menschengespielte Comicstorys können nur Trash sein, zumal da es ja schließlich Mozart, Goethe und Buñuel gibt: Ich war dieser Tage in einer Aufführung, in der im Münchner Residenztheater Goethes „Götz von Berlichingen“ verpädagogisiert und inszenatorisch mit Vorsatz und Abiturientenhumor gemeuchelt wurde. Das war Trash. Finde ich. Andere finden, es handele sich beim Münchner Götz um eine „Herausforderung“ (siehe Neusprachwörter) und modernes Theater. Klassiker werden besonders gerne gemeuchelt, nicht zuletzt in München, wo das Sprechtheater fast nur noch eine moralische Anstält*in ist.

Aber zurück zu Oscar Wilde. Er hat 1891 einen Aufsatz veröffentlich, der in der SZ-Wochenendausgabe auf jeden Fall „Essay“ genannt werden würde, weil da fast alles Essay heißt, unabhängig davon, ob es vielleicht nur ein etwas zu langer, sehr subjektiver Zeitungsartikel ist. Wildes Essay trug den Titel „The Decay of Lying – An Observation“, was so viel heißt wie „Der Verfall des Lügens“ oder auch, freier übersetzt „Der Verfall der Kunst des Lügens“. Wilde, der bestimmt kein angenehmer Charakter, aber ein beißend gescheiter Mensch war, lässt in dem Text zwei Leute, Vivian und Cyril, einen sokratischen Dialog führen, in dem es unter anderem um die „monströse Anbetung von Tatsachen“ geht und darum, wie die Faktenhuberei (mein Wort) die Literatur bedrohe: „Die Kunst wird steril werden und die Schönheit verschwindet“, im Original „Art will become sterile and beauty will pass away from the land“.

Wilde sah (schon) im 19. Jahrhundert die Literatur in Gefahr, weil Bücherschreiber und -innen sich immer mehr dem widmeten, was man heute „Sachbuch“ nennen würde. Ihnen, so Wilde, sei die Darstellung sozialer Verhältnisse wichtiger als die Kunst der Literatur. (Irgendwann einmal, vorzugsweise wenn ich nicht mehr schreibe, verfasse ich mal, und sei es nur in Gedanken, eine Polemik gegen das Sachbuch als solches.)

In Wildes Essay findet man auch den berühmten Satz: „Life imitates art far more than art imitates life“, das Leben imitiert die Kunst viel mehr, als die Kunst das Leben imitiert. Und damit sind wir wieder bei „Gotham“: In der Bügelbrettfolge nämlich heißt die böse Heldin Ivy Pepper. Ivy (englisch für Efeu) ist eine sehr radikale Pflanzenverteidigerin, die die Flora eindeutig so weit über die Fauna stellt, dass sie Menschen hasst, weil die den Pflanzen Lebensraum und Leben wegnehmen. Ivy hat sich – wir sind in der Welt des Comics – Superblüten aus einem Biolabor beschafft (Biolabor? Das könnte alle Querdenker animieren), deren durch die Luft fliegender Samen Blumen aus Menschen wachsen lassen. Danach leben die Blumen, aber die Menschen nicht mehr. Ihren großen Coup will Ivy bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung für „die Reichen von Gotham“ landen, weil Ivy „die Reichen“ für die schlimmsten Pflanzenfeinde hält. Außerdem sagt Ivy, eine Aktion gegen die Reichen errege das größte Aufsehen. Jim Gordon kann das florale Massaker in letzter Minute verhindern.

Nach dem Bügeln klappte ich das Brett zusammen und schaute noch mal auf die Nachrichtenagenturen, mehr aus alter Gewohnheit denn aus Notwendigkeit. Ich blieb bei einer dpa-Meldung hängen, die so begann: „Nach den Straßenblockaden der vergangenen Wochen will die Klimaschutzinitiative Letzte Generation nun gezielte Aktionen gegen ‚die Reichen‘ starten.“ Es gebe einen „Sommerplan 2023“, der sich gegen „die rücksichtslose Verschwendung der Reichen“ richten werde.

Wie jetzt, Ivy Rochel oder Carla Pepper? Leben wir vielleicht doch in einem Comic (was ich persönlich eher begrüßen würde)? Jim Gordon durchsuchte die Wohnung von Ivy Pepper, die Berliner Polizei, allerdings völlig jimgordonlos, trat die Tür der LG-Sprecherin Carla Rochel ein. War „Gotham“ eigentlich eine prophetische, klimaaktivistische, antikapitalistische Dokumentarserie mit Spielszenen? Oder ist die „Letzte Generation“ einem Drehbuch entsprungen und unversehens Wirklichkeit geworden, weil sie – siehe oben – gegen die Dystopie ankämpft? So wie Jim Gordon? Und welches Leben imitiert hier welche Kunst? Ist „Gotham“ Kunst oder Leben?

Wenn es gutgeht, ist die Kunst Leben, auch wenn das Leben selten Kunst ist. Der gemeuchelte Götz des Residenztheaters hat mich immerhin dazu veranlasst, in der still im Regal ruhenden Goethe-Gesamtausgabe den Götz zu suchen und, nach ungefähr 35 Jahren, wieder zu lesen. Leben war das schon damals nicht. Aber Kunst schon.
Kurt Kister
Redakteur
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