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EUROPA: WIE SINNVOLL IST DAS 750 MRD. EURO-PAKET?
von Dr. Holger Schmieding | Chefvolkswirt
 
 
Noch nie zuvor haben die Länder Europas so viel Geld in die Hand genommen, um sich gegenseitig in einer tiefen Krise zu helfen. Aufbauend auf einem deutsch-französischen Vorschlag vom 18. Mai hat die Europäische Kommission einen Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro angeregt. Zwei Drittel der Mittel sollen als Zuschüsse in die besonders von der Pandemie betroffenen Sektoren und Regionen fließen, ein Drittel soll als Kredit vergeben werden. Auch wenn es wohl noch bis weit in den Herbst hinein dauern wird, bis unter deutscher EU-Präsidentschaft die umstrittenen Einzelheiten des Programms geklärt werden können, rechnen wir doch damit, dass die EU einen solchen Fonds einrichten wird.
 
Krisen sind Treiber des Wandels
Erneut zeigt sich, dass Krisen oftmals die Treiber des Wandels sind. Unter Druck sind wir Menschen eher bereit als sonst, alte Standpunkte zu überdenken und Neues zu wagen. In der Eurokrise hatte die Europäische Zentralbank im Juli 2012 endlich die Rolle des Kreditgebers der letzten Instanz übernommen, die Zentralbanken andernorts traditionell schon immer ausgeübt haben. Nachdem die EZB ihren möglichen Großeinsatz angekündigt hatte, konnte die Krise dann schnell abflauen. Mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) hat die Eurozone in der Eurokrise zudem eine weitere Institution geschaffen, die gefährliche Schocks abfedern kann, die vor allem einzelne Länder des gemeinsamen Währungsraumes treffen.
 
Mit der Covid-19 Pandemie muss die Eurozone jetzt erstmals einen Schock überwinden, der die gesamte Region erschüttert. Aus zwei Gründen kam bereits der deutsch-französische Vorschlag für einen Wiederaufbaufonds von 500 Milliarden Euro einer kleinen Revolution gleich. Zum einen würde damit die Möglichkeit europäischer Institution, am Kapitalmarkt Anleihen herauszugeben, die von allen Mitgliedsstaaten gemäß ihrer Anteile am EU-Budget garantiert werden, erheblich ausgeweitet. Zum anderen sollen die Gelder den Empfängern als Zuschüsse und nicht als verbilligte Kredite zufließen. Auf den Einwand der „sparsamen Vier“ (Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden), es solle doch lieber bei Krediten bleiben, hat dann die Europäische Kommission am 27. Mai auf ihre eigene Art reagiert: Sie hat den deutsch-französischen Vorschlag von 500 Milliarden Euro Zuschüssen um 250 Milliarden Euro Kredite ergänzt, um so den Wiederaufbaufonds mit all seinen Einzelteilen auf 750 Milliarden Euro zu bringen.
 
Ein wichtiges politisches Signal
Macht der Vorschlag Sinn? Über viele Details lässt sich zu Recht streiten. Aber alles in allem stimmt die Richtung. Politisch ist die Lage klar: Wenn Europa keine gemeinsame Antwort auf die gemeinsame Herausforderung findet, wäre der Zusammenhalt der EU und des Euro massiv gefährdet. Gerade in Italien hatten viele Menschen im März den Eindruck, der geizige Norden würde das vom Virus besonders hart getroffene Land im Stich lassen. Populisten von rechts wie Matteo Salvini und von ultra-rechts wie Georgia Meloni fanden immer mehr Beifall für ihre billigen Parolen gegen Deutschland und Europa. Nachdem Berlin jetzt endlich ein großzügiges Signal der Solidarität gesandt hat, dürften die pro-europäischen Stimmen in Italien wieder etwas leichter Gehör finden.
 
Ohne Auflagen geht es nicht
Ökonomisch fällt das Urteil weniger eindeutig aus. Es macht Sinn, die Kosten der gemeinsamen Krise gemeinsam zu schultern. Dafür hätte es sich angeboten, so früh wie möglich einen gemeinsamen Fonds einzurichten, der für die Dauer der Pandemie gemeinsame Anleihen nach dem Vorbild der Schuldtitel des ESM herausgibt. So hätten sich alle Länder der Eurozone zu erträglichen Kosten die Mittel beschaffen können, um den beispiellosen Konjunktureinbruch des Jahres 2020 zu überstehen. Eine solche Idee hatten einige andere Ökonomen und ich im März unterbreitet. Leider hat der Vorschlag für derartige Corona-Bonds, die ihren Ausnahmecharakter bereits im Namen getragen und nur im Jahr 2020 begeben werden sollten, in Berlin keinen politischen Anklang gefunden.
 
Wer spät kommt, muss mehr bezahlen. Um die politischen Gefahren einzugrenzen, zu denen der lange und lautstarke Streit um die europäische Solidarität im März und April beigetragen hat, mussten Berlin und Brüssel jetzt weit ausholen. Ein auf viele Jahre angelegter Fonds, dessen Mittel zur zwei Dritteln als verlorene Zuschüsse statt als Kredit ausgezahlt werden sollen, geht weiter über die unmittelbare Hilfe im akuten Notfall hinaus. Je länger und großzügiger das Geld vergeben wird, desto größer die Gefahr, dass der Fonds falsche Anreize setzt. Während es bei einem reinen Notfallfonds für 2020 ausgereicht hätte, die sachgemäße Verwendung der Mittel zu prüfen, muss die EU bei einem Langfristprogramm genau darauf achten, dass die Empfängerländer sich nicht an die Transfers gewöhnen. Damit das große Programm auch wirtschaftlich Sinn macht, muss die EU die Vergabe der Mittel an die Bedingung knüpfen, dass Empfängerländer wie Italien gleichzeitig und nachprüfbar wachstumsfördernde Reformen umsetzen.
 
Auf Dauer zählen Reformen
Der Streit um solche Bedingungen dürfte in den kommenden Monaten und Jahren mancherlei Staub aufwirbeln. Allerdings liegt darin auch eine Chance. Reformen tun oft weh. Mit dem Geld aus dem neuen Topf könnte es Ländern wie Italien leichter fallen, den anfänglichen Schmerz solcher Reformen abzufedern. Sollte das Geld tatsächlich dazu führen, dass Italien seine Wachstumskräfte stärkt, indem es beispielsweise seine träge Verwaltung und sein noch langsameres Justizwesen reformiert, wäre es für Europa eine lohnenswerte Investition. Bereits in der Eurokrise hatte es sich ausgezahlt, den damaligen Krisenländern günstiger Kredite im Gegenzug zu durchgreifenden Reformen anzubieten. Gerade Griechenland ist heute strukturell weit gesünder als vorher.
 
Wenn das vorgeschlagene Wiederaufbauprogramm richtig umgesetzt wird, kann es Europa einen großen Schritt voranbringen. Trotz aller Widerstände spricht viel dafür, dass die EU bis Ende des Jahres ein solches Programm beschließen wird. Schließlich will Kanzlerin Angela Merkel im zweiten Halbjahr 2020, in dem Deutschland turnusgemäß den Vorsitz im Europäischen Rat übernimmt, den Zusammenhalt Europas und damit das wohl wichtigste Erbe ihrer vier Amtszeiten sichern. Mit einigen weiteren deutschen Zugeständnissen dürfte ihr das letztlich gelingen. Im Schatten der Pandemie ist der Einigungsdruck hoch.
 
Kein „Hamilton Moment“ für Europa
Allerdings erleben die Europäische Union und die Eurozone auch mit diesem Programm nicht einen „Hamilton Moment“. 1790 hatte der erste Finanzminister der USA, Alexander Hamilton, die US-Fiskalunion begründet, indem die Anleihen der oft hoch verschuldeten Bundesstaaten vergemeinschaftete und im Gegenzug die Fiskalpolitik weitgehend auf die Bundesebene übertrug. Selbst unter Einbezug aller weiteren Programme, die Europa als Antwort auf die Pandemie schon beschlossen hat, werden die gemeinschaftlich abgesicherten Anleihen europäischer Institutionen auch 2024 nur etwa 14% aller gesamten Staatsanleihen in der Eurozone ausmachen. Derzeit liegt der Anteil des ESM, der EIB und der Europäischen Kommission bei etwa 7,5%.
 
Europa zeigt sich solidarisch. Aber auf dem Weg in eine volle Fiskalunion sind die EU und die Eurozone nicht. Stattdessen dürfte Europa sich von Krise zu Krise jeweils einen neuen Ruck geben, um den jeweils aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden.
 
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Dr. Holger Schmieding
holger. schmieding@ berenberg. com
 
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