Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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24. November 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
wenn man zurzeit die Nachrichten aus Berlin verfolgt, könnte man glauben, es gäbe schon wieder eine neue Krise. Das Bundesverfassungsgericht hat, wie Sie längst wissen, der Ampel verfassungswidriges Haushaltsgebaren bescheinigt. Jetzt fehlt Geld, das zwar prinzipiell da wäre, aber nicht dort sein darf, wo es die Ampel gerne hätte. Außerdem fällt mir als Spezi trinkendem Laien auf, dass jene Verfassungsexperten, die sonst immer gegen „Gerichtsschelte“ wettern, selbst das Karlsruher Gericht immer dann schelten, wenn es Urteile fällt, die die Verfassungsexperten politisch für falsch halten.

Mich wundert das wenig, weil ich ohnehin glaube, dass große Teile der Juristerei ähnlich subjektiv sind, wie es die Germanistik ist. Der Jurist (und auch die Juristin) interpretiert Texte, nur dass es in Karlsruhe oder am Amtsgericht keine Gedichte oder Novellen sind, sondern Gesetze. Das Gesetz fasst Sachverhalte oder Moralanschauungen in Worte. Manche Wörter sind eindeutig, andere aber, darunter viele, die in Gesetzen stehen, gar nicht: Zehn bleibt zwar immer zehn, aber Heimtücke bedeutete vor hundert Jahren etwas anders als vor fünfzig Jahren oder heute. Stephan Harbarth (das ist der Vorsitzende des Ersten Senats in Karlsruhe) ist also eine Art Walter Jens, wenn auch weniger wortmächtig.

Die vermeintlich neue Krise ist, sagen und schreiben manche, die Koalitionskrise nach dem Karlsruher Urteil. Das übrigens fällte der Zweite Senat, sodass man die Germanistenmetapher vielleicht so ergänzen müsste, dass Doris König, die Vorsitzende des Zweiten Senats, eine Art Eva Menasse ist (die Schriftstellerin ist auch Germanistin). Obwohl ich gerne Sachverhalte und Entwicklungen sehr subjektiv in Worte kleide und/oder interpretiere, bin ich weder Jurist noch Germanist. In meiner Eigenschaft als Weder-noch-Mensch stelle ich fest, dass es keine neue Krise in Berlin gibt. Die Ampel ist seit zwei Jahren eine Krise, weil sich in ihr drei Parteien nolens volens gefunden haben, von denen zwei, die Grünen und die FDP, natürliche politische Gegner sind. Die Ampelkrise allerdings hat nur die lang andauernde Merkel-Krise ersetzt, deren Krisenhaftigkeit unter anderem daran sichtbar wurde, dass die SPD als dreimaliger Koalitionspartner fast alles mitgemacht hat, was die Union falsch machte, darunter die katastrophale CSU-Verkehrspolitik unter dem Bahnzerstörer Dobrindt und dem Maut-Andi.

Koalitionskrise in Berlin ist also nix Neues. In der FAZ habe ich trotzdem gelesen, dass, so schrieb ein möglicherweise von Merkur, Gott des Geldes und der Diebe, inspirierter Herausgeber, ein Ende mit Schrecken für die Koalition besser sei als ein Schrecken ohne Ende. (Ein Herausgeber ist in Frankfurt ungefähr das, was anderswo ein Chefredakteur ist, nur dass Herausgeber mehr schreiben, was auch nicht immer den Nutzen der Menschheit mehrt.) Ach, wo anders als in der FAZ würde man diese wunderbaren altdeutschen Metaphern noch finden?

Der Satz mit dem Schrecken und dem Ende wird dem sächsisch gebürtigen, in preußischen Diensten stehenden Husarenmajor Ferdinand von Schill zugeschrieben. Schill revoltierte 1809 gegen die napoleonischen Besatzer. Er hoffte, dass seinem Aufstand, den er als Kleinkrieg führte, Preußen und Österreicher folgen würden. Taten sie aber nicht. Am 19. Mai 1809 soll Schill, sich seiner relativ aussichtslosen Lage bewusst, auf dem Marktplatz von Arneburg im heutigen Sachsen-Anhalt in einer Ansprache gesagt haben: „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Ersteres Ende widerfuhr ihm schon am 31. Mai in Stralsund, wo er bei Straßenkämpfen totgeschossen wurde. Napoleon ließ ihm den Kopf abschneiden und schickte ihn, in Spiritus konserviert, an seinen Bruder Jérôme, den er zum König von Westfalen gemacht hatte.

Im Vergleich zu den letzten Monaten des Majors von Schill spielt sich in Berlin gerade eher eine der üblichen Repertoire-Operetten ab als eine Krise. Andererseits ist in unserer krisenschweren Zeit so ziemlich alles unterhalb einer Krise nahezu bedeutungslos. Bedeutung in der Politik des Jahres 2023 definiert sich nicht dadurch, wenn etwas klappt – etwa volle Gasspeicher oder eine permanente Unterstützung der angegriffenen Ukraine –, sondern dadurch, wie übel etwas nicht klappt. Für Leute, die sagen, gar vorhersagen, was alles nicht klappen wird, gibt es im Englischen den schönen Begriff soothsayer, der mit Wahrsager unzureichend übersetzt wäre, weil in diesem Wort etwas Ungutes, Kassandrisches mitschwingt.

Der Chef-Soothsayer in Berlin ist natürlich Friedrich Merz. Seine hohe Faltenstirn eignet sich hervorragend für die Unterstreichung seines Soothsayertums. Er bräuchte im Prinzip nur noch eine weiße Toga sowie einen längeren Krummstab, den er auf dem Rostrum des Bundestags schwenken könnte. Hilfreich für den Soothsayer ist die eigene Erfahrung, was im Leben oder in der Politik schiefgehen kann (man gebe in der Suchmaschine die Namen Merkel und Merz sowie die Jahreszahl 2002 ein).

Der Soothsayer jedenfalls gehört ebenso wie die zerstrittene Familie und der eher lethargische Familienvater zur Standardbesetzung der Koalitionsoperette. Die wiederum ist kein Schrecken ohne Ende, sondern eher so etwas wie die „Zauberflöte“: Man hat sie schon zwölf Mal gehört, kann aber immerhin „Der Vogelfänger bin ich ja“ mitsingen.
Kurt Kister
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