Berlin, 09.03.2023
 Berliner 
 Ordnungsruf 
 Politik und Ordnung 
 in der Zeitenwende 
 
Themen: 
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#NeueAufklärung
#Emergenz
Europa neu denken
Eine europäische Bürgerschaft im 21. Jahrhundert
Die großen Umbrüche der Gegenwart lösen eine Zeitenwende aus. Es ist Zeit für neue Ideen und eine progressive Ordnungspolitik: Wie können wir unsere Werte schützen und zukunftsfähige Visionen entwickeln? Und welche Rolle spielt Europa dabei?
Liebe Leserinnen und Leser,

überall wird die Zukunft Europas beschworen und gleichzeitig seine Schwäche beklagt. Und tatsächlich fehlt es Europa im Systemwettbewerb mit China und den USA an geostrategischer Souveränität, technologischer Führerschaft und sicherheitspolitischer Autonomie. Würde man heute jedoch Europäer danach fragen, wo sie am liebsten leben wollten – in China, in den USA oder eben in Europa –, so wäre die Antwort der allermeisten wohl eindeutig: Europa. Wäre die Entscheidung, in welchen Kontinent man hineingeboren wird, eine Lotterie, so wäre das Los „Europa“ so etwas wie ein Hauptgewinn. Meinungsfreiheit, soziale Sicherung, Bildungschancen und kulturelle Vielfalt sind wohl nirgends so stark verankert und gesichert wie in Europa. Umso erstaunlicher ist es, dass die Identifikation mit Europa immer noch relativ gering ist. Der europäische „Staat“ wird offenbar als schwach, die europäische „Bürgerschaft“ dagegen als stark wahrgenommen. Das ist interessant, gehören Staat und Bürgerschaft als soziale Konzepte doch eigentlich eng zusammen. Dass im Falle Europas die Wahrnehmungen und Einschätzungen diesbezüglich auseinanderfallen, ist zugleich eine Chance: nämlich Europa stärker vom Blickwinkel einer europäischen Bürgerschaft im 21. Jahrhundert aus weiterzuentwickeln.  
 
Kein Staat ohne Bürgerschaft
Wenn es um die Zukunft Europas geht, steht jedoch meistens die Frage im Mittelpunkt, wie eine weitere Staatenbildung aussehen könnte. Eine solche Sicht auf die europäische Integration ist aus der Historie und dem Status quo heraus nachvollziehbar, zumal vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen, die den Staat und vor allem die Exekutive in das Zentrum des Handels rücken: Wie sieht richtiges staatliches Handeln in der Pandemie, im Krieg oder im Klimawandel aus? Gerade jetzt, im Systemwettbewerb Europas mit den USA und China, scheint der Moment für einen weiteren großen Schritt zur europäischen Integration gekommen zu sein. Interessanterweise wird dieser Moment verbunden mit der Vorstellung einer weiteren Zentralisierung und Ausweitung von staatlicher Zuständigkeit. Dock kein Staat ohne Bürger. Schon bei Platon wird der Staat bei der Verwirklichung von Gerechtigkeit und des sittlich Guten vom Bürger aus gedacht ebenso wie später bei den Gesellschaftsvertragstheorien der europäischen, insbesondere der französischen und schottischen Aufklärung, in der ein vom Einzelnen ausgehender Vernunft- und Freiheitsbegriff hinzukommt, der bis heute in der ökonomischen Theorie als „methodologischer Individualismus“ fortbesteht. Gedanklich steht also die Freiheit des Einzelnen vor der Gewalt des Staates, die ihn erst zum Bürger macht. Der Wert einer Staatsbürgerschaft ist damit vor allem durch den Schutz bürgerschaftlicher Freiheit, den sie gewährt, begründet. 
 
Die Rationalität der Wahrheit und die Vernunft des Fortschritts
Heute ist der Mensch mehr denn je in seiner Mündigkeit gefordert und in seiner Freiheit bedroht, etwa durch Cyber-Manipulation, die Macht monopolistischer Plattformen, autonome künstliche Intelligenz oder den Kampf von Autokratien gegen die Demokratie von Innen und Außen. Es geht um Mündigkeit, Urteilskraft und um die Freiheit zur Wahrheit. In Demokratien ist das größte gemeinsame Interesse jenes an der Wahrheit, denn sie ist der einzig vernünftige Ausgangspunkt für Fortschritt. In der Vernunft des Fortschritts liegt die Rationalität der Wahrheit. In Autokratien dagegen richtet sich das größte Interesse einer partikularen Macht auf die Verschleierung der Wahrheit, auf die Lüge. Das Wesen, die Stärke und die Methode der liberalen Demokratie ist die freie, offene und tolerante Debatte. Demokratiegefährdend kann nie die Debatte selbst, sondern immer nur deren Beschränkung sein. „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“, sagte Ingeborg Bachmann. Bequemlichkeit ist in diesem Sinne die größte Gefahr für die Demokratie. „Wahrheit“ ist ein großes Wort, sie existiert immer nur als Annäherung. Wahrheit in diesem Sinne bezieht sich gleichermaßen auf objektive Richtigkeit, wissenschaftliche Erkenntnis und demokratische Übereinkunft – einschließlich ihrer prinzipiellen Vorläufigkeit. 
 
Eine neue Aufklärung für ein neues Zeitalter
Eine neue Bedrohung wirft ihren Schatten auf die Demokratie voraus. Generative Sprachmodelle, basierend auf künstlicher Intelligenz, schaffen aus den unendlichen Weiten des Internets neue Kontexte, die zunächst weder wahr noch falsch, sondern einfach konstruiert sind. Henry Kissinger, Eric Schmidt und Daniel Huttenlocher sehen darin eine neue intellektuelle Herausforderung für die Menschheit (vgl. ChatGPT Heralds an Intellectual Revolution). Wir werden nicht in einem Metaverse leben, sondern in einem Multiversum, der Parallelität unterschiedlich konstruierter Realitäten. Bürger im 21. Jahrhundert zu sein, bedeutet, seine Daten auf Plattformen zu teilen, mit künstlicher Intelligenz zusammenzuarbeiten, mit Algorithmen zu kommunizieren, natürliche Ressourcen nachhaltig zu nutzen. Damit verändert sich gleichsam das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, des Bürgers zum Staat, des Menschen zum Planeten. Grundlegendes bleibt dagegen gleich: das Streben nach Glück, das Bedürfnis nach Sicherheit, die Entfaltung des eigenen Selbst. Durch die gemeinsame Verantwortung für den Planeten und die nahezu grenzenlose Interaktion in virtuellen Räumen handeln wir in einem stärker als jemals zuvor vernetzten Kontext, die aber gerade keine kollektiv-altruistische, sondern eine liberal-individualistische Ethik erfordert. Sie setzt angesichts der Bedrohungen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts notwendig an der Freiheit, der Verantwortung und der Mündigkeit des Einzelnen an. Sie ist zugleich Grundlage einer neuen Aufklärung, die wieder eine europäische sein kann und muss.     
 
Europäische Narrative der Freiheit 
Unser aller Leben wird zukünftig entscheidend davon abhängen, wie die Fragen von Freiheit und Wahrheit politisch beantwortet werden, welche Idee von Bürgerschaft sich dadurch zugleich manifestiert. Die große Stärke der Demokratie fällt mit der konstitutiven Idee Europas zusammen: die Vielfalt der Perspektiven, die Freiheit der Meinungen und die Kraft der gemeinsamen Unterschiedlichkeit. Doch Europa bleibt weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Ein stärker bürgerschaftliches Europa würde jene Identifikation schaffen, die ihren Ausdruck in Verfassungsstolz und zivilgesellschaftlichem Engagement fände. Es sprechen also gute Gründe dafür, Europa und seine weitere Entwicklung aus der Perspektive und vom Ausgangspunkt einer europäischen Bürgerschaft zu denken. Nun sind Franzosen, Italiener und Deutsche als Bürger ihres Staates zugleich Angehörige der Europäischen Union. Aber was verbindet sie als europäische Bürger, was ist in diesem Sinne eine europäische „Republik“, was macht ihr Gemeinwesen, ihre „öffentliche Sache“ aus und was konstituiert ihre Öffentlichkeit, die durch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache bislang so sehr an einem Mangel an diskursiver Kraft leidet? Doch dies ist gerade kein Argument für eine staatlich konstruierte, sondern im Gegenteil bürgerschaftlich gelebte EU. Die Suche nach Deutung und Wahrheit wird zu einer gemeinsamen öffentlichen Angelegenheit. Es bilden sich durch den Deutungsprozess wichtige Narrative, die nicht nur politisch-gesellschaftlich, sondern auch ökonomisch-kulturell eine wichtige Kraft sind, denn sie werden zu Fokalpunkten von Gesellschaften, sie lenken Aufmerksamkeiten um, leisten Koordination, erzeugen neue kreative und produktive Kontexte. Der Nobelpreisträger Robert Shiller hat immer wieder auf deren Bedeutung hingewiesen (zuletzt in einem Interview mit „Das Investment“). Gerade für ein Europa mit vielen nationalen Öffentlichkeiten sind bürgerschaftliche Narrative für den politischen Prozess hilfreich. Die politische Integration der osteuropäischen Länder etwa wird kaum gelingen, wenn deren Erzählungen von Vergangenheit und Zukunft ungehört bleiben. Dabei zeigt gerade der Wahlerfolg von Kaja Kallas in Estland, wie attraktiv die Erzählung europäischer Freiheit sein kann.    
 
Die Emergenz der Zukunft  
Das attraktivere Bürgerschaftsmodell ist in einer freien Welt das entscheidende Argument für mündige Individuen, neue Ideen und risikobehaftete Investitionen. Und es ist eine Chance, den europäischen Provinzialismus, der sich aus dem ständigen institutionellen Blick der EU nach innen entwickelt hat, durch einen souveränen Blick nach außen zu ersetzen, der so viel mehr geeignet ist, brachliegende Potenziale für eine Identifikation mit Europa und seinen Werten zu aktivieren – vor allem bei den jüngeren Generationen, die mit Europa aufgewachsen sind und für die gerade deshalb eine eurozentrische Perspektive unattraktiv wirkt. Tragischerweise verstärkt die EU gerade ihre Politik der Regulierung und Eingriffe noch weiter und unterdrückt damit, was gerade in Zeiten von Krise und Transformation, von Komplexität und Ungewissheit die Stärke offener und pluralistischer Gesellschaften ist, nämlich die Emergenz der Zukunft. Zukunft ist nicht, sondern sie entsteht, indem sich neue Formen und Fähigkeiten entwickeln – am produktivsten in eben solchen Gesellschaften. Ein bürgerschaftlicher Ansatz, Europa neu zu denken, fördert zugleich Resilienz und Fortschritt, denn er denkt den Staat von den Interessen der Bürger und Politik von der Zukunft der Menschen. Dadurch wird gestärkt, was die UNESCO Future Literacy nennt, also die Fähigkeit, die eigene Zukunft zu reflektieren und diese selbstbestimmt zu gestalten. Technologie wird tun, was sie immer getan hat: sich entwickeln. Wir haben zwei Optionen: verantwortlich oder unverantwortlich mit ihr umzugehen, human oder inhuman. Den Menschen in dieser Weise ins Zentrum der Zukunftsgestaltung zu rücken, kann der Beginn einer neuen europäischen Aufklärung sein. Ein gesundes Leben in Freiheit führen zu können, kann (wieder) ein neues bürgergesellschaftliches Ideal in Europa sein – und eine Chance, Europa gegenüber den inneren und äußeren Versuchungen des Autoritären wieder attraktiver zu machen.  
 
Prof. Dr. Henning Vöpel
Vorstand Stiftung Ordnungspolitik
Direktor Centrum für Europäische Politik
  
cepAnalyse: Produkthaftung
 
Mehr Rechte im Schadensfall: Die Kommission hat eine Neufassung der Produkthaftungsrichtlinie vorgelegt. Das Centrum für Europäische Politik (cep) sieht Rechte von Geschädigten gestärkt, warnt jedoch im Detail vor Rechtsunsicherheit und Unschärfen.
cepAnalyse
Pier Virgilio Dastoli:
The Battle of Europe
 
Europe is facing troubling times. The upcoming European Elections will take place on 9th of May 2024. For the first time, an alliance of conservatives and right-wing populists is imminent. Pier Virgilio Dastoli, president of the European Movement in Italy, outlines possible solutions.
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