Berlin, 23.05.2022
 Berliner 
 Ordnungsruf 
 Politik und Ordnung 
 in Zeiten des Wandels 
 
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Davos: Eine neue Angebotspolitik gegen die Stagflation
  
Die großen Umbrüche der Gegenwart lösen eine Zeitenwende aus. Es ist Zeit für neue Ideen und eine progressive Ordnungspolitik: Wie können wir unsere Werte schützen und zukunftsfähige Visionen entwickeln? Und welche Rolle spielt Europa dabei?
Liebe Leserinnen und Leser,

Wenn in dieser Woche in Davos über die Weltwirtschaft diskutiert wird, dann wird die allgemeine Feststellung sein, dass sich die globale Wirtschaft in einer historisch kritischen Situation befindet - vielleicht so kritisch wie zuletzt in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, mindestens aber seit der Stagflation der Siebzigerjahre. Nicht ohne Grund ist das diesjährige Treffen in der Schweiz mit dem Titel "Geschichte am Wendepunkt" überschrieben. Pandemie und Krieg belasten die Lieferketten und die Inflation ist zurück, während die Geld- und Fiskalpolitik entweder unwirksam ist oder deren Spielräume erschöpft sind. Kurzum: die makroökonomische Konstellation der nächsten Jahre gleicht einem Pulverfass und die Welt spielt mit dem Feuer. Die Goldenen Zwanziger, von denen noch 2019 - vor nicht einmal drei Jahren! - die Rede war, sind in weite Ferne gerückt. 
 
Die Ordnungsfrage: Grenzen der Nachfrage- und Chancen der Angebotspolitik 
Die wichtigste Erkenntnis aus den Erfahrungen der Siebzigerjahre besteht darin, dass angebotsseitige Verwerfungen sich allenfalls moderieren, aber niemals durch eine reine Nachfragepolitik beseitigen lassen. Im Gegenteil: Der Inflationsdruck wird mit jedem Versuch, real höhere Kosten und Knappheit nominal auszugleichen, nur noch größer. Das globale Angebot ist zudem bei Weitem nicht mehr so elastisch wie in den letzten Jahren, als eine nahezu grenzenlos expandierende chinesische Wirtschaft jede Nachfrage aus der Welt ohne Kostensteigerungen bedienen konnte. Hinzu kommt die ökologische Transformation der Wirtschaft, die im Übergang zu einer Belastung für Konsumenten und Produzenten wird, zu der es aber angesichts des fortschreitenden Klimawandels (in Indien herrschen seit Wochen Temperaturen von zum Teil über 50 Grad Celsius) keine ernsthafte Alternative gibt. Es ist klar, dass in einer solchen Situation, in der die Energie- und Nahrungsmittelpreise weltweit rasant steigen, kurzfristig eine Umverteilungs- und Schuldenpolitik in den Blick rückt. Ebenso klar muss aber sein, dass das allein nicht ausreicht, denn die neuen Knappheiten sind struktureller Natur. Schon jetzt ist der geld- und fiskalpolitisch befeuerte Nachfrageüberhang über ein ins Stocken geratenes Angebot und einen veralteten Kapitalstock immens. Es wird also Zeit für nicht weniger als eine neue Angebotspolitik. Und damit ist keinesfalls eine Umverteilung von unten nach oben gemeint, sondern ganz im Gegenteil der Anreiz zur Schaffung moderner und zukunftssicherer Jobs in der Breite der ganzen Gesellschaft. Was wie die Stagflation der Siebzigerjahre aussieht, ist in Wahrheit ein umfassender Umbau der Angebots- und Produktionsbedingungen in den 2020er Jahren, die vielleicht nicht golden werden mögen, aber entscheidend für zukünftigen Wohlstand sind. 
 
Die Europa-Perspektive: eine Offensive für Innovation, Handel und Wettbewerb 
Eine neue Angebotspolitik tut gerade in Europa not. In Europa sind derzeit zwei Diskussionen vorherrschend: zum einen die zweifellos wichtigen Gesetzgebungsvorhaben, die mit regulatorischen Leitplanken den Umbau der Wirtschaft vorantreiben sollen, vor allem mit dem Digital Markets Act (DMA) und dem Digital Services Act (DSA) sowie dem Fit-for-55-Programm im Rahmen des Green Deal, zum anderen eine mögliche Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, der mehr fiskalische Spielräume bereitstellen soll, aber droht, als ständige Finanzierungsfazilität für Umverteilung innerhalb der EU missbraucht zu werden. Es wird vor diesem Hintergrund ganz entscheidend darauf ankommen, die europäische Wirtschaft im Kern zu modernisieren und ihre Innovations- und Produktionskraft zu erneuern. Eine Offensive für Technologie und Unternehmertum sind jenseits von Regulierung und Finanzierung die zwei tragenden Säulen für mehr wirtschaftliche Dynamik. Eine dritte Säule sind neue Handelsabkommen, die helfen können, Lieferketten- und Versorgungsrisiken zu diversifizieren, diesbezügliche Abhängigkeiten zu reduzieren und die Angebotsbedingungen zu stabilisieren, eine vierte Säule die Wettbewerbspolitik, die die Marktmacht und Preissetzungsspielräume von Monopolen und Kartellen bricht, denn fast immer sind sie es, die in und von Krisen profitieren. Will Europa in Zeiten einer umfassenden geopolitischen Neuvermessung der Weltwirtschaft nicht von der Karte des 21. Jahrhunderts verschwinden, muss es strukturell gestärkt aus den Krisen hervorgehen.  
 
Der Ordnungsruf geht an die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger, die in Davos die Weltwirtschaft und die Weltpolitik diskutieren: Setzt eine neue Angebotspolitik auf die wirtschaftspolitische Agenda der 2020er Jahre! Anders wird sich die immer enger zuziehende Schlinge aus Inflation, Verteilungszwängen und Wachstumsschwäche nicht lösen lassen. Eine kluge Angebotspolitik mit verlässlichen regulatorischen Rahmenbedingungen und finanzpolitischer Stabilität, aber vor allem einer Offensive für Innovation, Handel und Wettbewerb kann in stürmischen Zeiten Vertrauen in die Politik zurückbringen. Soziale Folgen müssen abgefedert werden, Preissignale aber unbedingt ihre Lenkungswirkung entfalten können, damit sich neue Lösungen am Markt bilden können und sich so die Angebotsrestriktionen infolge der vielen Krisen und Transformationen wieder lockern. Sonst braut sich am Ende tatsächlich der perfekte Sturm zusammen, in dem keine Bazooka mehr helfen wird.

Mit herzlichen Grüßen

Henning Vöpel 
Prof. Dr. Henning Vöpel
Vorstand Stiftung Ordnungspolitik
Direktor Centrum für Europäische Politik
  
Fit for 55: Klima und Straßenverkehr
 
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Wie grüner Wasserstoff Europa unabhängiger macht
 
Explodierende Energiepreise als Folge des Ukrainekrieges drängen die Europäische Union vehement zur Abkehr von fossilen Rohstoffen. Brüssel will deshalb verstärkt auch auf grünen Wasserstoff setzen. Das Centrum für Europäische Politik hält diesen Energieträger für ein wichtiges, allerdings limitiertes Element auf dem Weg zu einer effizienten Energiewende.
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