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Tagesspiegel Checkpoint vom Dienstag, 30.11.2021 | Regnerisch bei max. 6°C. | ||
+ „Gutes Regieren“: Die Zukunft Berlins beginnt wackelig + Zuständig werden: Verwaltung soll experimentieren + Wieder nix gelernt: Elternvertreter kritisieren Schulpläne + |
von Anke Myrrhe |
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Guten Morgen, sechs Mikrofone, aufgereiht in einem Saal mit Turnhallen-Charme, aufgeregte Fotografen, Zugangsbeschränkungen, leichte Verspätung. Kann sich nur um das Comeback der alten Schülerband handeln, Schiller Allstars oder Goethe Gospels. Nunja, ein Comeback ist es schon, irgendwie, was die neue Koalition da aufs Parkett legen möchte, vielleicht nicht ganz so unerwartet wie das von Abba, aber mit ähnlich schillernden Worthülsen angepriesen. Nur ohne Avatare – die hätten hier ohnehin Verbindungsprobleme. Die „Zukunftshauptstadt Berlin“ halten die ganz realen Politikerinnen in den Händen, den neuen Koalitionsvertrag der alten Partner. „Sozial. Ökologisch. Vielfältig. Wirtschaftsstark.“ soll Berlin werden, irgendwo zwischen Weltstadt und Kiez, kündigt die neue Frontfrau an. Dass der Livestream der Präsentation ähnlich wackelig ist wie das Verhältnis der Koalitionäre, passt ebenso ins Bild wie die ständig sichtbare Ausgangstür im Hintergrund. Darüber das rot-grün-rot gestreifte Berlin, Symbol der neuen Einigkeit, aufs Grellste unerkennbar heraufgebeamt. Unbeabsichtigt zeigt Berlin, wie weit das Ziel der modernen Hauptstadt entfernt liegt. Der wohl neue Supersenator Werner Graf (Verkehr, Umwelt, Landwirtschaft), Landesvorsitzender der Grünen, referiert unterm Notausgangschild, man wolle „Berlin den Booster geben, Zukunftshauptstadt zu werden.“ Doch die Zukunft beginnt im Heute: ruckelig, schmutzig und ziemlich trocken. Nicht einmal eine Stunde schaffen es die neuen Spitzen, Einigkeit zu simulieren – nachdem die designierte Regierende bereits am Sonntag mit Solo-Foto statt Gruppen-Selfie alle überraschte. Während Bettina Jarasch (Grüne) viel zu lange von Din-A4-Zetteln abliest, winden sich die nebenstehenden Bürgermeister to be, Franziska Giffey (SPD) und Klaus Lederer (Linke), Erstere blickt hilfesuchend zu Letzterem und irgendwann genervt auf die Uhr, während Letzterer im Anschluss demonstrativ verkündet, wegen der fortgeschrittenen Zeit nun nicht mehr lange reden zu wollen. Als sei das alles nur die nächste Wahlkampfdebatte und nicht der Aufbruch in eine neue Zeit. Apropos Zeit: Gestern Nacht war übrigens die Andreasnacht, und die ist nach altem Volksglauben besonders dazu geeignet, den gewünschten künftigen Ehepartner an sich zu binden oder zumindest herauszufinden, wer es denn sein soll. Hoffentlich gibt’s da kein böses Erwachen. | |||
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Aber Schluss jetzt mit der symbolischen Herumjammerei, schließlich kommt es doch auf die Inhalte an! Und davon gibt es einige auf den 152 Seiten bzw. 149 (Giffey: „Kommt drauf an, ob man das Deckblatt mitzählt“), egal: Jedenfalls etwa ein Viertel weniger als beim letzten Mal, und da haben wir schließlich gelernt, dass viel aufschreiben nicht unbedingt viel Ergebnis bringt. Die 22 Unterpunkte hätten fast den Adventskalender gefüllt, weniger überraschend ist, dass das Wort „Zukunft“ (in unterschiedlichen Varianten) gleich 52 Mal vorkommt, also etwa auf jeder dritten Seite. „Neu“ ist sogar 218 Mal dabei, für einen „Neuanfang“ allerdings hat es nicht gereicht (= 0). Und dennoch ist viel Neues dabei, von Wohnen bis Wirtschaft (alle Details hier), spürbar vorwärts gehen soll es nun nach fünf Jahren mit angezogener Handbremse im Verkehr: Parken soll für Anwohner künftig zehn Euro im Monat kosten (bisher im Jahr), die Parkraumbewirtschaftung innerhalb des S-Bahn-Rings ausgeweitet werden. Zumindest ein Denkanstoß für Dauerparker. Ansonsten wichtig: Die Verkehrsverwaltung übernimmt die Zuständigkeit für Hauptstraßen; Gäste bekommen ein Öffi-Zwangsticket verpasst; so ziemlich alles andere wird ausgebaut (außer die A100) und Seilbahnen geprüft. Bis auf Letzteres durchaus sinnvolle Ideen – wenn sie denn nun wirklich mal auf die Straße kommen. | |||
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Apropos Zuständigkeit: Auch in Sachen Verwaltung (Grundlage für alle echten Reformen) weht ein wenig Aufbruch durchs Dokument, zumindest rhetorisch. Oder wie es Giffey am Abend im rbb ausdrückte: „Das Thema funktionierende Stadt ist ein ganz entscheidendes.“ Eine neue Führungskultur soll den Beschäftigten „eine konstruktive, wertschätzende, ergebnisorientierte, behörden- und ebenenübergreifende Zusammenarbeit“ ermöglichen (das wäre wirklich mal was Neues), „Prozesse und Verfahren vereinfacht und beschleunigt“ werden, „Zuständigkeiten von Land und Bezirken klar geregelt“. Konkret soll dafür das bisherige Allgemeine Zuständigkeitsgesetz (AZG) – Checkpoint-Lesern bekannt als „Gesetz der Allgemeinen Unzuständigkeit“ – durch ein neues Gesetz ersetzt werden. Eine Verfassungsänderung wird zumindest „beraten“. Zudem sollen „experimentelle Formen der Zusammenarbeit“ erprobt werden. (*Die gemeine CP-Leserin legt sorgenvoll die Stirn in Falten.) | |||
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Apropos Sorgen: Die haben bekanntlich vor allem Kinder und ihre Eltern nach 25 Jahren SPD-geführter Bildungsverwaltung – und hier gibt es bedauerlicherweise kaum Hoffnung auf Lernerfolg. Erst an Position 16 der 22 Koa-Punkte findet sich „Bildung, Jugend & Familie“, was in etwa der Prioritäten-Wahrnehmung der Elternschaft entspricht. Giffey seufzte fast resigniert, bevor sie dieses Ressort als letztes in der SPD-Reihe aufzählte, als wollte sie sagen: Was soll‘s, wenn sonst niemand will … Dabei war es einst das Lieblingsthema der Neuköllner Bildungsstadträtin, auch als Bezirksbürgermeisterin ließ sie die Stadt ihre Bildungsverantwortung spüren. Nun ist die heißeste Kartoffel der Stadt erneut bei der SPD gelandet. Wieder nix gelernt. „Zwischen überfällig und lauwarm“ kommentierte am späten Abend der Landeselternausschuss das Niedergeschriebene. Die Vereinbarungen rund um die Fragen der Personalgewinnung (Rückkehr zur Verbeamtung, vorrübergehend bis 52 Jahre) seien wichtig; als positiv bewertet der Ausschussvorsitzende Norman Heise zudem, dass einzelne Forderungen aus dem Bericht der Qualitätskommission enthalten sind. „Hier fragen wir uns, wenn schon auszugsweise Punkte übernommen wurden, warum dann nicht die relevanten oder besser gleich alle?“ Kann man nicht lernen. Also weiter im Stoff: „Einige Punkte sind bereits in der letzten Legislatur auf den Weg gebracht worden und müssen nur noch umgesetzt werden. Hier wirken sie wie Fülltext, um das Kapitel nicht all zu kurz werden zu lassen.“ Heises Fazit: „Beim Lesen entsteht der Eindruck, die Beteiligten meinen, Berlin sei bereits auf einem guten Weg. Wir haben hier deutliche Zweifel.“ Konkrete Pläne oder Bekenntnisse habe man sich beispielsweise in den Bereichen Digitalisierung, Klassenfrequenzen, kostenfreies Mittagessen an weiterführenden Schulen und Grundqualifizierung von Quereinsteigenden gewünscht. „Mit Abschluss der Koalitionsverhandlungen ist der Drops nun gelutscht. Er schmeckt weitgehend fad und stößt sauer auf“, sagt Heise. „Die Berliner Bildungslandschaft hat Innovationen und Visionen verdient – nicht nur Ruhe und Kontinuität am Ende der Bildungsrankings.“ Und was meinen Sie? Ist die neue Koalition gut für Berlin? | |||
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Warum die Stadt nicht funktioniert, zeigt ein kleines Beispiel aus Charlottenburg-Wilmersdorf, graue Realität der Berliner Bezirksverwaltungen. Hier beschwerte sich der kürzlich nicht wiedergewählte Bezirksverordnete Martin Burth (SPD), dass kleine Anfragen vom Bezirksamt regelmäßig stark verspätet beantwortet werden. Burth hat dazu Beschwerde bei der Bezirksaufsicht beim Innensenator eingereicht – und zwei Monate später eine Antwort erhalten. Das BA sei zwar verpflichtet, Anfragen innerhalb von vier Wochen zu beantworten, habe aber nach Bitte um Stellungnahmen mitgeteilt, dass das wegen andauernder Arbeitsüberlastung von Mitgliedern des Bezirksamts teilweise nicht möglich ist. Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport kommt zu dem Schluss, es lägen zwar Rechtsverstöße vor, sehe aber „keine Veranlassung für eine bezirksaufsichtsrechtliche Maßnahme des Senats“. Frage beantwortet. | |||
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Besagter Martin Burth hat übrigens auch ein Problem mit seiner verpassten Wiederwahl. Wegen der inzwischen umfangreich beschriebenen Wahlpannen (u.a. CP, 27.9. ff) hat er Einsicht in die Wahlunterlagen beantragt. Die wurde ihm verwehrt mit der Begründung: „Ein Anspruch auf Einsichtnahme in die Niederschriften der Wahlvorstände besteht nur dann, wenn Sie hinsichtlich des konkreten Wahllokales Anhaltspunkte für mögliche Wahlfehler konkret angeben. Eine pauschale Einsichtnahme in sämtliche Niederschriften ohne Angabe einer näheren Begründung ist hingegen unzulässig.“ Problem: Wenn er wüsste, was genau er suchte, müsste er ja nicht danach suchen – richtig? Ein Henne-Ei-Problem, das bekanntlich auch der abgewählte Abgeordnete Marcel Luthe (früher FDP, jetzt Freie Wähler) hat: mit demselben Ergebnis. Luthe hatte über mehrere Wege versucht, die Protokolle der Landes- und Bezirkswahlausschüsse, eine Liste besonderer Vorkommnisse in den Wahllokalen und eine Übersicht über die Schließzeiten der Wahllokale zu bekommen – was ihm mit einer ähnlichen Begründung wie Burth verwehrt wurde. Luthe hat deswegen gestern Einspruch beim Verfassungsgerichtshof eingelegt. „Nun gilt es abzuwarten“, sagte Luthe dem Checkpoint, „mehr kann ich aktuell nicht tun.“ Aber das Warten ist er (und wir) schließlich gewohnt. | |||
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Apropos Warten: Das mussten auch 60 Gäste in einem britischen Pub – und zwar drei Tage und Nächte lang. Während sie auf ein Konzert einer Oasis-Cover-Band warteten, tobte draußen in Nordengland ein Schneesturm, das Konzert fiel aus, die Leute saßen fest. Gibt schlimmere Orte, sagten sie sich und vertrieben die Zeit mit Pubquiz und Karaoke. Essen gab es genug, erzählte Betreiberin Nicola Townsend, die aus Sicherheitsgründen den Hahn allerdings erst ab 15 Uhr aufdrehte. Gestern konnten alle Gäste schließlich „gerettet“ werden, Don’t Look Back In Anger, I heard them say … Und in welcher Berliner Kneipe würden Sie gern mal einschneien? (Einsendungen bitte an checkpoint@tagesspiegel.de). Heute und am Wochenende könnte es übrigens schon etwas werden (mit dem Schnee, nicht der Kneipe). Noch mehr Schnee gibt‘s heute im Comic der großartigen Naomi Fearn (für Abonnenten). | |||
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