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Liebe/r Leser/in,

wir waren frei, wir waren wild, wir hatten Spaß. In den 90er Jahren, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges so wunderbar warm und bunt anfühlten wie ein kalifornischer Strandtag, mahnte mich mal mein Großvater zu ein bisschen mehr Demut und Zurückhaltung: „Wer weiß, was du noch alles erlebst?“, sagte der Mann, der zwei Weltkriege ertragen musste. Ich muss heute an ihn denken und glaube, er meinte nicht Corona, diesen Angriff auf unsere Welt in den vergangenen zwei Jahren – nein, er meinte wohl eher diese Katastrophe, die wir nun im Osten unseres Kontinents erleben.

Plötzlich lernen wir, dass die Welt am Morgen anders ausschauen kann als beim Gutenachtsagen am Tage zuvor. Wir erleben das Ende von Gewissheiten, das Ende unserer gewohnten Ordnung. Wir erleben eine Zeitenwende.

Gerade schwere Zeiten befähigen immer wieder Menschen dazu, über sich selbst hinauszuwachsen. Zwei beeindruckende Beispiele dafür durften wir seit dem Überfall Putins auf die Ukraine erleben. Ich denke dabei an die ergreifende Video-Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das Europaparlament am vergangenen Dienstag, in der er sich am 6. Tag der russischen Invasion zu Europa bekannte. Dafür gab es stehende Ovationen! Die erntete auch Bundeskanzler Olaf Scholz für seine Regierungserklärung am Sonntag im Bundestag, in der er radikale Konsequenzen aus der Zeitenwende des ersten Angriffskriegs in Europa seit 1945 zog.

Diese Rede vom 27. Februar 2022 wird Deutschland verändern wie nur wenige zuvor. Mir fällt dabei vor allem die Rede eines anderen sozialdemokratischen Bundeskanzlers vor fast zwei Jahrzehnten ein. Es war der 14. März 2003, an dem Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung seine Agenda 2010 vorstellte. Sie zielte auf eine tiefgreifende Reform des deutschen Sozialsystems und des Arbeitsmarkts, um Deutschland global wettbewerbsfähig zu machen. Es ging um mehr Wachstum und um mehr Beschäftigung.

Schröders Rede bezeichnete eine sozial- und wirtschaftspolitische Zeitenwende in einer Situation, in der Deutschland aufgrund seiner ökonomischen Schwäche als kranker Mann Europas galt. Sie begrub alle Träume des Lafontaine-Flügels der SPD, soziale Gerechtigkeit vor allem durch Umverteilung und staatliches Handeln zu erzwingen. Dass dem Gerhard Schröder von heute das Geld Putins wichtiger ist als persönlicher Anstand und das Ansehen des ganzen Landes, offenbart eine Lumpengesinnung, ändert aber nichts an seinen objektiven Verdiensten von 2003.

19 Jahre später nun beerdigt Scholz mit seiner Ruck-Rede den gerade bei Sozialdemokraten und Grünen tief verwurzelten Glauben, dass Sicherheitspolitik in unsere Zeit aus Konferenzen, Kontakten und Verträgen, auf jeden Fall aber nicht aus militärischer Stärke besteht. Olaf Scholz ist am 8. Dezember vergangenen Jahres als Bundeskanzler vereidigt worden. Für mich ist er am vergangenen Sonntag in dem Amt angekommen.

Die volle Dimension der Scholz-Wende haben deren Gegner bei den Grünen und in der SPD – also die jeweilige Partei-Linke – sofort erkannt. Während die Abgeordneten erst der Union und dann auch der FDP dem Kanzler für die 100 Bundeswehr-Milliarden spontan mit stehendem Applaus dankten, blieben SPD- und Grüne-Parlamentarier sitzen, manche schüttelten sogar den Kopf. 100 Milliarden für die Aufrüstung, aber nur 60 Milliarden für Klimaschutz und Energiewende?

Schon am Montag gehen sie in die Offensive. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, ließ den Kanzler via „FAZ“-Interview wissen: „Über die Maßnahmen, die jetzt angekündigt wurden, werden wir im Detail noch sprechen“ – und zwar kritisch. Die Juso-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Jessica Rosenthal legte in der „SZ“ nach: „Es bringt nichts, weitere Milliarden Euro in einem schwarzen Loch zu versenken.“ Andere warnten vor Kürzungen im Sozialen oder bei der Ökologie.

Dieser Chor wird – je weiter das Kriegsgeschehen in der Ukraine zurückliegen wird – an Lautstärke zulegen. Beschleunigen wird sich dieser Prozess, sollte die SPD in den kommenden Landtagswahlen nicht an Stimmen gewinnen. Zu sehr steckt der Partei der Albtraum des bundesweiten Aufkommens der Linkspartei mit ihrem einstigen Vorsitzenden Oskar Lafontaine in den Knochen – nicht zuletzt wegen Hartz IV.

Olaf Scholz weiß das genau. Er macht sich auch keine Illusionen darüber, wie flüchtig Parteitagsmehrheiten sind. Denn er war im Agenda-Jahr 2003 Generalsekretär, als die SPD die Schröder-Pläne absegnete. Nach der Wahlniederlage der SPD im Jahr 2005 wollten dann viele nicht mehr dabei gewesen sein. Um so beeindruckender ist der Mut, mit dem der Kanzler keine 100 Tage nach seinem Amtsantritt unter dem Eindruck der Rückkehr des Kriegs nach Europa das sicherheitspolitische Ruder he­rum­geworfen hat. Man könnte es als die Rückkehr der politischen Führung in die deutsche Politik bezeichnen.

Mit vielen Grüßen,

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Robert Schneider,
Chefredakteur FOCUS-Magazin

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