Liebe/r Leser/in, nirgendwo klaffen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie bei diesem Thema: „Bildung ist wichtig“, „Bildung ist unser einziger Rohstoff“, „Bildung ist unsere Zukunft“, tönt es aus den Sonntagsreden der Politik, das Publikum könnte im Schlaf mitsingen. Goethe, Schiller, Humboldt dürfen im Refrain nicht fehlen. Die triste Realität bricht sich regelmäßig dann Bahn, wenn die OECD ihre Pisa-Zeugnisse verteilt. Nach den ersten Schocks zur Jahrtausendwende hat man sich inzwischen fast schon an die Mittelmäßigkeit gewöhnt. Eine gewisse Resignation hat sich breitgemacht, so wie sich das Land mit Rumpelfußballern und streikenden Lokführern abgefunden hat.
Dieses Mal jedoch ist alles noch mal schlimmer: Uns wird von der OECD ein beispielloser Absturz bescheinigt. Die deutschen Schüler schneiden in der aktuellen Pisa-Studie so schlecht ab wie noch nie. Sowohl beim Lesen wie in Mathe-matik und Naturwissenschaften erreicht die Leistung neue Tiefstwerte. Der Anteil von denen, die nicht einmal die simpelsten Mathe-Anforderungen erfüllen, ist von 21 auf 30 Prozent gestiegen, verglichen mit der letzten Erhebung 2018. „Diese Schüler können nicht einmal ausrechnen, ob sich ein Sonderangebot lohnt“, sagt OECD-Bildungsexperte Francesco Avvisati. Folglich hat diese Gruppe kaum Chancen, in qualifizierte Ausbildungsberufe zu gelangen. Ein Desaster für die Bildungspolitik: setzen, Sechs! Woher aber soll der Wohlstand kommen, mahnt das Ifo-Institut, wenn das Bildungsniveau der wichtigste Faktor für langfristiges Wirtschaftswachstum ist und die Bildung in Deutschland so auf den Hund gekommen ist?
Gewiss, es gab Sondereffekte in diesen anstrengenden Zeiten, das Schulsystem hat Strapazen hinter sich. Die übermäßig langen Schulschließungen während der Pandemie waren ein Fehler, obendrein fehlte es für den Distanzunterricht an technischem Gerät wie an geschultem Lehrpersonal. Corona allein vermag das Elend freilich nicht zu erklären.
Brisanter ist eine weitere Ursache: Der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund hat sich binnen zehn Jahren verdoppelt, in Großstädten haben in manchen Vierteln weit über 80 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. „Deutschland wird bunter und dümmer“, ätzt die „Neue Zürcher Zeitung“ über das vormalige Land der Dichter und Denker. Nur zwölf Prozent der Kinder aus der ersten Zuwanderungsgeneration sprechen zu Hause Deutsch. Ohne Kenntnis der Sprache aber können sie dem Unterricht nicht folgen. „Aufstieg durch Bildung“, ein zentrales Versprechen der Bundesrepublik, wird so obsolet. Die reflexhaft vorgetragenen Vorschläge zur Linderung der Misere tragen da nicht weit; wenn etwa dem Föderalismus die Schuld zugeschoben wird, gerade so, als sei es damit getan, das Niveau einzuebnen, die Schüler in Bayern auf Bremer Rechenkünste runterzupegeln. Auch der Ruf nach immer mehr Milliarden hilft nur bedingt, lehrt die Pisa-Studie: Andere Nationen geben pro Schülerkopf deutlich weniger Geld aus. Mit deutlich besserem Ergebnis. |