Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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19. Juli 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
beim Herumlesen in jenen Mails, die ich immer noch kriege, weil ich früher mal ein anderer war, als ich heute bin, habe ich einen Artikel gefunden, in dem sich jemand Gedanken darüber gemacht hat, was man als Mittelchef m/w/d tun soll, wenn man gegenüber den Mitarbeitern einen Beschluss der Großchefs vertreten muss, von dem man selbst nichts hält. Keine Sorge, das hier wird kein Servicetext, weil ich solche Texte erstens dem Wirtschaftsteil überlasse, und ich es zweitens meistens unangenehm finde, wenn mir meine Zeitung als Elternteil gegenübertritt und mir sagt, was ich tun soll.

Neulich zum Beispiel habe ich gelesen (erstaunlicherweise nicht in einem Newsletter des SZ-Magazins), dass man sich Nasenhaare nicht ausreißen soll. Weil das Nasenhaarwachstum eines der vielen Nichtprivilegien ist, mit denen der Schöpfer oder die Evolution vor allem Männer, gerade die älteren, geschlagen hat, grenzen die Nichthaarausreißhinweise an Verhöhnung. Nasenhaare haben zwar eine Funktion – schauen Sie im Netz nach, welche –, sind aber, das ist eine subjektive Beurteilung, enorm unästhetisch. Ich bin vor langer Zeit mal dem großen Großverleger Siegfried Unseld auf einem sogenannten Event begegnet. Mir sind bis heute Unselds Nasenhaare in Erinnerung geblieben. Bestimmt ist Unseld an jenem Tag nicht mehr dazu gekommen, die Nasenhaare zu schneiden, auszureißen oder sie von Martin Walser beseitigen zu lassen. Ganz sicher aber wusste er, wie man es macht – auch ohne Nutzwertratschläge oder gar Youtube, das es damals so noch nicht gab.

Wenn man auf Youtube das Stichwort „Nasenhaare“ eingibt, wird man von Videos geradezu zugewuchert. Da gibt es Leute, die dazu animieren, die Nasenhaare mit Wachs zu entfernen; andere hantieren mit Pinzettendingern, mit denen die Heilige Inquisition wohl auch Giordano Bruno zum Widerruf gebracht hätte. So ist diese elende Zeit: Man kriegt gesagt, wie man Nasenhaare entfernt, aber der längst nach Berlin migrierte Suhrkamp-Verlag verkauft jetzt auch noch Unselds Haus in der Frankfurter Klettenbergstraße. Und wahrscheinlich gibt es demnächst ein Bändchen von Peter Handke mit dem Titel „Versuch über die Nasenhaare“.

Aber eigentlich wollte ich mir ein paar Gedanken darüber machen, wie das so ist im Spannungsfeld zwischen Ehrlichkeit und Loyalität. Ich habe das früher häufiger selbst erlebt, als ich noch der war, der ich dann nicht mehr sein wollte, weil der, der ich geworden war, den, von dem ich glaubte, ich sei er, manchmal auch zuwuchs wie ein chefgewordenes Bündel Nasenhaare. Klar, leben und arbeiten in der Gemeinschaft – sei es eine Firma, eine Koalition oder eine Redaktion – erfordert Kompromisse, Zurückstecken und manchmal auch Sich-Verbiegen. Wenn zum Beispiel eine Geschäftsführung oder ein Aufsichtsrat behauptet, Kostensenkung werde nicht nur die Kosten verringern, sondern auch die Qualität verbessern, ist das oft, wenn auch nicht jedes Mal, typisches Chefgeschwätz nach dem Motto „15 Prozent weniger gehen immer“. Wer so was sagt, hat häufig wenig Ahnung davon, wie die Dinge, die er für grundsätzlich zu teuer produziert hält, tatsächlich entstehen.

Und klar, wenn man nicht mehr so viele Schrauben verkauft, muss man die Produktion verringern und in der Folge möglicherweise auch Leute entlassen. Das kann man als Mittelchef dann „mittragen“, wenn man das Gefühl hat, die streichenden Mächte machen sich gleichzeitig Gedanken darüber, wie man neue, andere Schrauben herstellt und die dann auch verkaufen kann. Leider ist das Streichen einfacher als das Erneuern, weswegen manche erfolgreiche Manager in manchen Firmen zunächst an den Ergebnissen des Kürzens gemessen werden, weil das Aufbauen komplizierter ist und länger dauert. Nicht wenige Kürzer glauben außerdem, sie entfernten nur überflüssiges Astwerk, merken aber nicht, dass die Säge längst in den Baum vorgedrungen ist, auf dem alle sitzen.

Manchmal muss man mitsägen oder glaubt zumindest, man müsse es tun. Solange man sich dabei allerdings irgendwie schlecht fühlt, ist noch Hoffnung. Der anfangs erwähnte Loyalitätstext hat mich daran erinnert, dass eigene Fehlentscheidungen in aller Regel weniger schlimm sind als die vielen, von einem selbst so empfundenen Unterwerfungen unter eine, nennen wir es mal: Strategie, die man zunächst für falsch hält, sich dann daran gewöhnt und sie schließlich als Datum, als Gegebenes, empfindet oder gar akzeptiert. Die Grenze der Loyalität sollte da verlaufen, wo sich aus Loyalität und/oder aus Konfliktzurückhaltung die Persönlichkeit zu verändern beginnt.

Das klingt jetzt wie aus einem Nutzwert-Newsletter oder einem dieser zahlreichen Wie-werde-ich-klüger-besser-erfolgreicher-Bücher. Andererseits bin ich fast sicher, dass jede und jeder im Berufsleben Loyalitätspersönlichkeitsveränderte (LPV, gerade erfunden) kennengelernt hat. Ich hatte früher den Eindruck, manche LPVs würden besonders weit kommen in der Hierarchie, sodass gerade sie von Anderen jenes Verhalten forderten, das sie geformt, manchmal verformt hat: „Die Entscheidung ist getroffen, also verhalten Sie sich entsprechend.“

Wahrscheinlich irre ich mich ja, und die LPVs sind in der Wirklichkeit viel seltener als in meiner Erinnerung. Aber, was soll man machen: Wenn man älter wird, wird die Erinnerung zur Wirklichkeit. Und außerdem wachsen die Nasenhaare.
Kurt Kister
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So liebte und so lebte er
Die Rede von Ulla Berkéwicz zur Ausstellungseröffnung von „Siegfried Unseld, der Verleger“ im Literaturmuseum der Moderne Marbach.
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