Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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28. Juni 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
in den nicht immer so guten, alten Zeiten, als Helmut Schmidt noch Kanzler war und man von Kassel aus den Osten für rot hielt, weil man sich gar nicht vorstellen konnte, dass Thüringen mal eine blaubraune Grundfärbung annehmen würde, in diesen Zeiten also sorgte der Spiegel für einen schweren Nord-Süd-Eklat. Der Spiegel, dies für jüngere Leser und Leserinnen dieser Kolumne, war mal so bedeutend, dass man montags auf ihn wartete. Heute wartet man samstags nicht mehr so sehr auf ihn, weil die vielen Website-only-Leser ohnehin nicht so genau wissen, was ein „neues“ Heft ist. Das trifft leider auch immer mehr auf Tageszeitungen zu. Medienphilosophisch gesprochen zerlegt die Illusion der Sekundenaktualität nebst der permanenten Herummeinerei, deren wahres Zuhause Twitter (X) und Verwandte darstellen, die Vorstellung, es könne einen endlichen Tag geben. Die Zeitung aber ist die Botin des endlichen Tages, und das Wochenmagazin ist das Spektiv auf die Woche aus endlichen Tagen. Die ADHS-24/7-Ideologie, die Teile des Netzes beherrscht, ist in gewisser Weise unmenschlich, weil sie auf stetiger Bewegung ohne Innehalten und oft auch ohne Ordnung gründet: Gebt mir das, was ich will, und gebt es mir schnell und jederzeit. Und gratis.

Aber eigentlich wollte ich gar nicht über die Zukunft der Zeitung schreiben, sondern über Spaghetti. Im Juli 1977 erschien der Spiegel mit einer Titelgeschichte über das „Urlaubsland Italien“. Auf dem Cover sah man einen kurzläufigen Trommelrevolver, der in einem Teller Spaghetti lag. Auf einer grünweißroten Banderole las man „Entführung, Erpressung, Straßenraub“. Bei vielen Italienern kam das gar nicht gut an, der Botschafter beschwerte sich, Zeitungen und Zeitschriften in Italien schlugen mit Deutschland-Klischee-Geschichten zurück. Hätte es das Netz schon gegeben, hätte ein Shitstorm von Tornado-Ausmaßen getobt. Es gab das Netz aber nicht.

Dieser Tage ist hierzulande ein Buch erschienen, das es in Italien schon länger gibt. Der Verfasser heißt Alberto Grandi und ist Wirtschaftshistoriker an der Universität in Parma. Professor Grandi nimmt sich in seinem „Mythos Nationalgericht“ die italienische Küche vor, auch wenn er ein großer Fan genau dieser Küche ist, wie er in einem SZ-Interview mit Francesca Polistina sagte. (SZ Plus) Vieles, was wir so als italienische Küche kennen, ist nach Grandis Recherchen und Ansicht entweder nur ein paar Jahrzehnte alt oder gar nicht genuin italienisch. Teigfladen mit etwas drauf (italienisch: Pizza) gibt es im gesamten Mittelmeerraum, sagt Grandi, die Carbonara-Soße kommt aus Amerika, und selbst der Cappuccino ist in den Siebzigerjahren zuerst dort populär geworden, wo viele Deutsche Urlaub machen, also an der Adria rund um Rimini.

Dem Professor hat seine Mythenzerkratzung in Italien viel Missmut eingebracht, zumal auch dort der Nationalismus – Salvini, Meloni – eine Art risorgimento erlebt. Die italienische Küche ist italienische Lebensart, und wer die angreift, greift Italien an. Denken (und sagen) die Nationalisten. Wenn irgendwelche Deutsche (Wurstel con crauti) über die italienische Küche lästern – na ja, was soll man von den Tedeschi schon erwarten? Aber ein Italiener, noch dazu einer, der in Parma (Schinken, Parmigiano) wohnt? Und der auch noch sagt, dass der Parmesan aus Wisconsin, der dort von den Nachfahren italienischer Auswanderer auf alte Art gemacht wird, eigentlich viel italienischer ist als der relativ neumodische, hartbröckelige Parmigiano?

Nehmen wir mal an, dass vieles, was Grandi schreibt, so falsch nicht ist. Man hat ja so seine eigenen Erfahrungen gemacht. Als wir in den Siebzigerjahren den Partykeller mit Kerzen auf bastumwundenen, bauchigen Chiantiflaschen beleuchteten, gab es nicht viele, die vorher diesen Chianti, eine ziemliche Plörre, hätten trinken wollen. In den Jahren und Jahrzehnten später aber wurde aus der Plörre ein sehr annehmbarer Wein, und manche Gallo-Nero-Chianti gehören – ja, das ist subjektiv – heute zu den besten Rotweinen Europas. Es entstand eine Tradition, auch wenn die Chianti-Evolution für eine Tradition eigentlich zu jung ist. Chianti ist Italien, so wie Botticelli, aber auch Gianna Nannini Italien sind. Selbst wenn die Pizza in Chicago erfunden worden wäre, wäre sie dennoch Italien.

Etwas Typisches muss nicht etwas Altes, gar etwas Immobiles sein. Und so wie sich die Zeiten ändern, ändert sich auch die Wahrnehmung dessen, was typisch ist. Das typisch Italienische zum Beispiel hat heute viel mit den Einflüssen der Auswanderer zu tun, die im 19. und 20. Jahrhundert als Wirtschaftsmigranten ihre Heimat verließen, aber Italien mit nach Argentinien, Australien, New Jersey oder Böblingen nahmen. Übrigens, Migration ist typisch italienisch, sei es von Italien aus in die Welt, sei es von der Welt nach Italien. Migration ist so italienisch wie es Dante und Tortellini sind.

Für jene Tedeschi, die Italien im Herzen tragen, ist es sowieso wurscht, ob schon Federico da Montefeltro oder erst Federico Fellini Tiramisu gegessen hat. Italien ist das, was man sich auf der Terrasse des Ferienhauses in Montepulciano vorstellt. Und dass dieses Italien ein ganz anderes Italien ist als das Italien von Matteo Salvini, ist genauso sicher wie die Tatsache, dass die Türken den Espresso erfunden haben.
Kurt Kister
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