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Kurzstrecke |
Tagesspiegel Checkpoint vom Donnerstag, 26.03.2020 | Sonnig bei max. 10 °C. | ||
+ Berlins Kontaktverbot im „CSU-Style” + Abiturprüfungen sollen stattfinden + Fachärzte fordern Debatte zu Entscheidungen über Leben und Tod + |
von Julius Betschka |
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Guten Morgen, gesicherte Informationen sind zurzeit der beste Impfstoff gegen das Coronavirus. Was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Senatskanzlei in den vergangenen Tagen in kürzester Zeit auf die Beine – vielmehr: ins Netz – gestellt haben, verdient großes Lob. Auf berlin.de/corona finden Sie ein ausführliches, übersichtliches FAQ zu den in den vergangenen Tagen vom Senat beschlossenen Sofort-Maßnahmen. Wichtig: Alle Infos sind auch in Englisch, Türkisch, Arabisch und Russisch lesbar. Die Mitarbeiter des Landesamts für Flüchtlinge haben außerdem Podcasts in acht Sprachen zum Umgang mit Quarantäne-Maßnahmen aufgenommen. Gute Nachrichten gegen falsche Neuigkeiten. | |||
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Zur Verwirrung hat der Senat leider auch selbst beigetragen. Die am Sonntag per Verordnung verhängte Daheim-Bleibe-Pflicht lädt zu freiem Interpretieren ein. So titelte etwa t-online am Mittwoch: „In Berlin darf man nicht mal mehr allein im Park sitzen”. Das ist laut Senatssprecherin Melanie Reinsch (CP von gestern) zwar nicht ganz richtig (kurz sitzen bleibt erlaubt), aber laut der beschlossenen Verordnung eben auch nicht komplett falsch (eigentlich ist nur Bewegung im Freien erlaubt). Verständlich? Jein. Was die Berliner Regelung so kompliziert macht: Sie verbietet das Draußensein, räumt aber zahllose Ausnahmen ein (einen Überblick finden Sie hier). In den meisten anderen Bundesländern ist der Aufenthalt auf der Straße noch gestattet, wenn man bestimmte Regeln beachtet. Berliner müssen sich hingegen jederzeit rechtfertigen und ausweisen können, wenn sie ihre Wohnung verlassen. Wirksam vielleicht, juristisch aber heikel. Wir setzen uns jetzt – kurz – für eine Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins, die dem Checkpoint vorliegt. Zwar sei unbestritten, heißt es darin, dass „weitreichende Beschränkungen des sozialen Lebens” erforderlich sind. „Ein generelles Verbot, die eigene Wohnung zu verlassen, ist dagegen mit dem Leitbild des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren.” Insbesondere die Berliner Regelung wird kritisiert: „Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht gezwungen werden, sich gegenüber der Polizei dafür zu rechtfertigen, warum sie von grundlegenden Freiheiten Gebrauch macht.” Es sei nicht hinnehmbar, gegenüber der Polizei darlegen zu müssen, warum man einen Arzt oder Rechtsanwalt aufsuchen müsse. Das sitzt. „Diesen CSU-Style hätte ich Rot-Rot-Grün gar nicht zugetraut", sagt Bernd Schlömer, FDP-Sprecher für Bürgerrechte, dem Checkpoint. Nur in Bayern ist die Regelung ähnlich streng. Die Berliner Lösung führe zu einem „Rechtfertigungszwang der Bürger, den ich kritisch sehe”, sagt Schlömer (genau wie Ex-Innenminister Gerhart Baum). Dass Kontaktverbote in dieser Lage grundsätzlich nötig sind, bezweifelt Schlömer nicht. Auf das Wie kommt es an. | |||
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Die härteste Opposition scheint momentan ohnehin in der Koalition selbst zu sitzen. Dort werden in Akkordarbeit weitreichende Entscheidungen getroffen. Im Hauptausschuss wurde am Mittwoch die 100-Millionen-Euro-Frage verhandelt: Woher soll man so viel Geld für die Finanzierung der neuen Coronavirus-Klinik auf dem Messegelände nehmen? Die Grünen meldeten haushaltsrechtliche Bedenken zu einem Vorschlag der SPD an, die fühlte ihre Senatoren zu Unrecht düpiert. Die Senatskanzlei musste vermitteln. Mit einigen Stunden Verspätung und tiefen Zornesfalten im Gesicht wurde letztlich trotzdem ein rot-rot-grüner Weg gefunden: Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) wird das neue Spital über einen von zwei Nachtragshaushalten finanzieren. Außerdem gab die Koalition noch 28,6 Millionen Euro für 1.100 zusätzliche Beatmungsgeräte frei – die Kapazitäten für schwerkranke Covid-19 Patienten sollen so verdoppelt werden. Und auch Berlin packt die Bazooka aus: 600 Millionen Euro für mittlere und kleinere Unternehmen sollen jetzt fließen. 300 Millionen Euro können kleine Firmen mit bis zu fünf Beschäftigten, Freiberuflern und Solo-Selbstständigen beantragen. Die andere Hälfte des Sofortprogramms soll zinslose Kredite für kleine und mittlere Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten finanzieren. „Eine gewisse Firepower“, nannte Finanzsenator Kollatz das bei den Kollegen von der taz. Ob’s reicht? Wer weiß. | |||
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Zwei andere SPD-Entscheider, der Regierende Bürgermeister und seine Gesundheitssenatorin, üben sich derweil seit Wochenbeginn im Ping Pong: Dilek Kalayci empfahl am Mittwochabend wiederholt, dass über 70-Jährige sich „in Selbstquarantäne begeben“ sollten. Ihren ersten Aufschlag hatte Kalayci mit dieser Idee am Montag gemacht. Müller schmetterte am Dienstag im „rbb“ zurück übers Netz (CP von gestern). Kalayci konterte via Twitter. Dem Gesetz der Serie folgend wäre der Regierende heute wieder dran. Oder sie sprechen mal miteinander. | |||
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Es gäbe auch sonst ausreichend Anlass zu Reden. Weil Schutzmasken, Handschuhe, Kittel und Desinfektionsmittel in vielen Kliniken (in Hausarztpraxen sowieso) schon jetzt knapp sind (CP vom 24.03.), haben sich die Beschäftigten von Vivantes und Charité jetzt in einem offenen Brief an Müller und Kalayci gewandt. Die vorhandenen Bestände an Schutzkleidung würden nicht reichen, die Personalsituation sei ähnlich mies. Neidisch guckt man in Berlin in den Süden der Republik: Bayern und Baden-Württemberg machten es vor, schreiben die Beschäftigten, dort stellen Fabriken längst auf die Produktion von medizinischem Bedarf um. Der in Berlin ansässige Pharmariese Bayer hat von der Gesundheitsverwaltung dagegen noch nichts gehört, erfuhr der Checkpoint. Aus Koalitionskreisen heißt es, die zentrale Beschaffung von Schutzkleidung sei von Kalayci zu spät priorisiert worden. Das rächt sich langsam. | |||
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Das Schrumpfparlament. Zwei Abgeordnete sind mit dem Coronavirus infiziert. Trotzdem wird die Plenarsitzung heute stattfinden. Der Regierende Bürgermeister plant immerhin eine Regierungsansprache – natürlich zum Coronavirus. Einige Abgeordnete werden nicht dabei sein, weil die Infektion des AfD-Abgeordneten Martin Trefzer – ihm geht’s gut – Kreise zieht. Trefzer hatte sich am vergangenen Donnerstag auf das Coronavirus testen lassen, war am Dienstag aber trotzdem zur Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Fall Hubertus Knabe gegangen. Weder das Testergebnis noch das Ende der angeratenen häuslichen Quarantäne hatte er abgewartet. Kurz danach die Nachricht: Trefzer ist positiv. Parlamentskollegen bezeichneten sein Auftauchen im Ausschuss nun als „unvernünftig“ bis „grob fahrlässig“. Alle anderen Mitglieder wurden jetzt von einem Amtsarzt angeschrieben und sollen sich selbst überwachen. Die Linke-Abgeordnete Anne Helm wird sich vorsorglich in Quarantäne begeben und nicht an der Plenarsitzung teilnehmen. Mehrere AfD-Abgeordnete sollen sich ebenfalls isoliert haben, die Fraktion heute stark dezimiert sein. Das alles ist – leider – kein Witz. | |||
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1645 Menschen sind in Berlin mittlerweile mit dem Coronavirus infiziert, wie die Gesundheitsverwaltung mitteilte. Das sind 220 mehr als noch am Dienstag. Besonders deutlich ist die Steigerung der schwereren Erkrankungsverläufe: Im Krankenhaus isoliert und behandelt werden 208 Personen, davon werden mittlerweile 38 intensivmedizinisch behandelt. Am Dienstag lagen diese Werte bei 112 beziehungsweise 26. Der vierte Covid-19-Patient ist am Mittwoch gestorben. Es handelt sich um einen 83 Jahre alten Mann mit Vorerkrankungen. Wichtig zu wissen: Das Robert-Koch-Institut hat die Definition bei seiner Zählung angepasst. Es werden jetzt automatisch auch Kontaktpersonen mit Symptomen als infiziert gemeldet. Auch beim Tagesspiegel gibt es einen weiteren an Covid-19 erkrankten Kollegen. Wir wünschen ihm von ganzem Herzen, dass er sich bald wieder erholt. Seiner Familie viel Kraft. Was Sie selbst tun können, wenn Sie an Symptomen leiden und wo sie sich testen lassen können, lesen Sie hier. Das alles gibt‘s auch auf Englisch – genau wie den Checkpoint. | |||
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Die Zahl der Infizierten steigt weiter exponentiell, die Auslastung der Intensivbetten in Berlins Krankenhäusern ist aber noch unkritisch. Deutsche Ärzte halten es trotzdem für „wahrscheinlich, dass auch in Deutschland in kurzer Zeit (…) nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Ressourcen für alle Patienten zur Verfügung stehen.“ Das schreiben sieben ärztliche Fachgesellschaften in einem gemeinsamen Papier, das dem Checkpoint vorliegt. Sie fordern eine Debatte über die Triage – also die Entscheidung, wer bei fehlenden Kapazitäten weiterbehandelt wird und wer nicht. Die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Papier: + „Wenn nicht mehr alle kritisch erkrankten Patienten auf die Intensivstation aufgenommen werden können, muss analog der Triage in der Katastrophenmedizin über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden.“ + „Vorrangig werden dann diejenigen Patienten klinisch notfall- oder intensivmedizinisch behandelt, die dadurch eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Gesamtprognose (auch im weiteren Verlauf) haben.“ + „Eine Priorisierung ist aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes nicht vertretbar – nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten – und nicht zulässig allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien.“ + „Entscheidungen sollen möglichst nach dem Mehraugen-Prinzip erfolgen unter Beteiligung von möglichst zwei intensivmedizinisch erfahrenen Ärzten und von möglichst einem Vertreter der Pflegenden.“ Damit wollen die Mediziner vorbereitet sein auf Situationen, wie sie im französischen Straßburg Alltag sind. Laut einem erschütternden Bericht des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin (DIFKM) werden dort seit dem 21. März Patienten, die älter sind als 80 Jahre, nicht mehr beatmet. Stattdessen erfolge „Sterbebegleitung mit Opiaten und Schlafmitteln“. Korrektur: Vorerst bis zum 19. April wird der BerlKönig den regulären Betrieb einstellen und ausschließlich kostenlose Fahrten für medizinisches und pflegerisches Personal anbieten. Wir hatten geschrieben, der Senat würde dafür zahlen. Die Information basierte auf einem Missverständnis. Tatsächlich zahlen die BVG und ihr Kooperationspartner ViaVan die Aktion aus dem eigenen Geldbeutel. Wir bitten um Entschuldigung und wünschen den Ärzten und Pflegern: erholsame Fahrt! | |||
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Zum Abschluss drei gute Nachrichten: + Berlin setzt auf Solidarität: Senatssprecherin Melanie Reinsch bestätigte, dass die Charité zeitnah bis zu fünf schwer am Coronavirus erkrankte Patienten aus Italien aufnehmen und intensivmedizinisch behandeln wird. Zuvor hatte schon Sachsen angekündigt, sechs italienische Patienten aufzunehmen. Ein großer Schritt für die Geretteten, ein kleiner für Europa. + Flexible Verkehrsführung: Weil momentan weniger Busse und Autos fahren, baut Kreuzberg die Radwege aus. Mit provisorischen gelben Markierungen wurden auf den Hauptachsen Hallesches Ufer und Zossener Straße neue Zweiradspuren aufgeklebt. Die Anordnung gilt zunächst befristet für die Pandemie-Situation. Weiter Bezirke könnten folgen. + Abitur – bitte Ruhe: Die Prüfungen sollen (verspätet) stattfinden und nicht ausfallen. Darauf hat sich die Kultusministerkonferenz geeinigt. Seltenes Glücksgefühl für Schulsenatorin Sandra Scheeres: „Das war genau das, was wir wollten“, sagt sie. | |||
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