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Europa hat es nicht immer leicht mit seinen britischen Freunden. Politisch hat Großbritannien der Europäischen Union Ende Januar schließlich den Rücken gekehrt. Aber wirtschaftlich ist noch kaum etwas geklärt. Stattdessen hat sich in den letzten Wochen erneut herausgestellt, dass viele Politiker in London weiterhin eigenen Wunschträumen anhängen, ohne den europäischen Realitäten Rechnung zu zollen. Laut einiger Medienberichte möchte Premierminister Boris Johnson beispielsweise vorschlagen, dass der künftig eingeschränkte Zugang von EU-Fischern zu britischen Fischgründen Jahr für Jahr neu ausgehandelt werden müsse, während die EU der britischen Finanzindustrie dauerhaft einen nahezu unbeschränkten Zutritt zum gemeinsamen Finanzmarkt der EU einräumen möge. Angesichts solcher Erwartungen dürften die Verhandlungen über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen, die im März ernsthaft beginnen sollen, für beide Seiten erneut zur nervenzehrenden Hängepartie werden. Wie zuvor hat die große EU dabei die besseren Karten in der Hand.
 
Insgesamt dürfte der Brexit aber in diesem Jahr die Stimmung der deutschen, europäischen und britischen Wirtschaft weniger belasten als 2019. Da es sich diesmal eher um wirtschaftlich-technische als um emotional-politische Fragen handelt. Auch hat das Risiko eines wirtschaftlich ungeregelten Austritts aus dem gemeinsamen Markt etwas an Schrecken verloren, da sich Unternehmen auf beiden Seiten des Ärmelkanals bereits im letzten Jahr mehrfach darauf vorbereiten mussten. Sollte es Ende 2020 also dazu kommen, wäre es wohl kein so großer Schock mehr. In diesem Sinne stehen die Unsicherheiten über den Brexit in diesem Jahr einem vorsichtigen Wiederaufschwung der Stimmung und Investitionen der Unternehmen in Europa nicht im Wege.
 
Rote Linien engen den Spielraum ein
Beide Seiten haben für die Verhandlungen über ihre künftigen Wirtschaftsbeziehungen bereits einige rote Linien gezogen. London will die Übergangsfrist, in der die Briten im Gemeinsamen Markt der EU verbleiben, keinesfalls über den 31. Dezember 2020 hinaus verlängern. „Over isch over“ könnte man in Anlehnung an Wolfgang Schäubles einstige Warnung an Athen dazu sagen. Zudem wollen die Briten künftig für Güter und Dienstleistungen eigene Regeln und Standards setzen und die Zuwanderung von Arbeitskräften aus der EU nach eigenem Gutdünken steuern können. Die EU strebt stattdessen ein möglichst umfangreiches Freihandelsabkommen an, das allerdings zwei Bedingungen genügen müsse. Erstens könne ein Nicht-Mitglied nicht die gleichen Vorteile wie ein Mitglied in Anspruch nehmen. Zweitens könne es den weitgehend freien Marktzugang ohne Zölle und Quoten nur geben, wenn Großbritannien sich dauerhaft und gerichtsfest dazu verpflichtet, die EU-Standards im Arbeits-, Gesundheits- und Verbraucherschutz einzuhalten und seinen Unternehmen nicht durch Steuern oder Subventionen einen künstlichen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.
 
Diese Positionen sind nahezu unvereinbar. Zudem haben beide Seiten nur neun Monate Zeit, um von März bis November ein Abkommen auszuhandeln, das dann nach dem EU-Gipfel vom 10. Dezember noch fristgerecht ratifiziert werden könnte. Da Johnson seit der Wahl vom 12. Dezember über eine klare Mehrheit im Parlament verfügt, kann er nicht – wie vorher – von Pro-Europäern aus den eigenen Reihen zu einer weicheren und für die britische Wirtschaft günstigeren Haltung gedrängt werden.
 
Bleibt Johnson bei seinen roten Linien, dürfte bei den Verhandlungen mit der EU wenig herauskommen. Wir rechnen nur mit einem Rumpfabkommen für einige wesentliche Bereiche des Güterhandels sowie einige Dienstleistungen. London und Brüssel dürften es allerdings schaffen, den Übergang zur harten neuen Realität etwas abzumildern, indem sie sich gegenseitig zeitlich begrenzte Sonderregelungen für andere Bereiche gewähren. Das dürfte auch für den Finanzsektor gelten, damit es nicht gleich zum Stichtag 1. Januar 2021 zu großen Verwerfungen kommt. Wirtschaftlich gesehen wird es letztlich auf einen recht harten Brexit hinauslaufen, der sich allerdings vermutlich in Etappen statt auf einen Schlag vollziehen dürfte.
 
Johnsons australische Option
Man kann dies auch geografisch ausdrücken. Bisher trennt nur der bei Dover 34 Kilometer breite und zudem untertunnelte Ärmelkanal das Land der weißen Klippen vom europäischen Festland. Selbst wenn die Verhandlungen zwischen London und Brüssel gut laufen, wird angesichts der britischen Ausgangsposition höchstens ein Wirtschaftsabkommen dabei herauskommen, das in etwa dem Vertrag der EU mit Kanada entspricht, dem direkten Nachbarn auf der anderen Seite des Atlantiks. Um seine Entschlossenheit zu unterstreichen, sich nicht auf große Kompromisse mit der EU einzulassen, liebäugelt Johnson sogar öffentlich mit der „australischen“ Variante. Außer einer kleinen Vereinbarung über technische Standards hat Australien trotz laufender Gespräche bisher noch keinerlei Handelsabkommen mit der EU.
 
Klarer als mit dem Hinweis auf Australien kann Johnson kaum ausdrücken, wie distanziert die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und dem Ex-Mitglied Großbritannien später einmal sein könnten. Für die britische Exportwirtschaft würde dies einen erheblichen Verlust darstellen. Schließlich erarbeiten die Briten derzeit 13 % ihrer Wirtschaftsleistung durch die freie Ausfuhr in die EU. Für die EU ergäben sich ebenfalls einige Nachteile. Der Zugang zu einem wichtigen Markt wäre eingeschränkt, zudem dürfte sich dieser Markt weniger dynamisch entwickeln als vorher. Aber dem ständen einige Vorteile entgegen. Einige Unternehmen werden ihre Produktion für den gesamteuropäischen Markt auf den Kontinent verlagern. Zudem dürfte es manche qualifizierte Arbeitskräfte, die sonst an die Themse gewandert wären, künftig eher an die Seine, den Rhein, die Elbe oder die Weichsel ziehen.
 
Treppenwitze der Brexit-Geschichte
Die Geschichte des Brexit ist voller Treppenwitze. Erst hatte Großbritannien nach der Osterweiterung der EU 2004 als einziges Land den Arbeitskräften aus Osteuropa sofort die volle Freizügigkeit gewährt – um dann zwölf Jahre später im Brexit-Referendum gerade auch als Reaktion auf diese Zuwanderung für den Austritt aus der EU zu stimmen. Erst hatte sich Margaret Thatcher 1975 im ersten britischen Referendum leidenschaftlich für einen Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft eingesetzt – um dann in den späten 1980er Jahren trotz der von ihr selbst durchgesetzten Vollendung des EU-Binnenmarktes zur wichtigsten Europa-Skeptikerin ihres Landes zu werden.
 
Der größte Treppenwitz könnte aber ein ganz anderer sein. Jahrzehntelang haben viele Briten immer wieder versichert, sie würden die wirtschaftliche Integration mit dem gemeinsamen Markt schätzen, stünden aber der weitergehenden politischen Integration eher skeptisch gegenüber. Jetzt sieht es so aus, als würden nach dem Brexit vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen leiden. Dagegen dürfte den Briten auf der politischen Ebene gar nichts anderes übrig bleiben, als sich angesichts der Herausforderungen durch einen erratischen US-Präsidenten, eines halbstarken Herrschers in Russland und eines immer rücksichtloser auftretenden roten Kaisers in China eng mit den europäischen Nachbarn abzustimmen. Die Art, wie sowohl die EU als auch Großbritannien trotz amerikanischer Bedenken mit Huawei umgehen, verweist bereist auf die großen politischen und praktischen Gemeinsamkeiten, die Großbritannien weiter mit dem europäischen Festland verbinden werden. Es zeichnet sich ab, dass die außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen London und den wichtigsten Hauptstädten des Kontinents durch den Brexit weit weniger beeinträchtigt werden dürfte als der wirtschaftliche Austausch.
 
EU27: Ein Klub der Klubs
Nach dem lärmenden Brexit-Theater des Jahres 2019 ist es unwahrscheinlich, dass ein anderes EU-Land in absehbarer Zeit den Briten folgen möchte. Stattdessen entwickelt sich die EU27 wohl Schritt für Schritt zu einem Klub der Klubs. Während der Gemeinsame Markt sowie grundlegende Normen der Demokratie, des Rechtsstaates und der Menschenrechte für alle Mitglieder verbindlich sind, vollzieht sich die weitere Integration zumeist in Teilgruppen, die sich darauf untereinander verständigen. Der Euro ist das wichtigste, aber längst nicht das einzige Beispiel. Auch in der Sicherheitspolitik geht der Weg in diese Richtung.
 
Damit könnte die EU27 im Laufe der Zeit immer mehr zu dem werden, was viele Briten sich lange gewünscht haben: einem gemeinsamen Markt, dessen Mitglieder nicht verpflichtet sind, alle darüber hinaus führenden Integrationsschritte mitzumachen. Schade eigentlich, dass die Briten nicht mehr dabei sind.
 
Es handelt sich um eine leicht aktualisierte Fassung eines Textes, der bereits bei Capital Online erschienen ist.
 
Dr. Holger Schmieding
Chefvolkswirt
Berenberg
+44 7771 920377
 
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