Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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26. Januar 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
neulich schrieb mir ein treuer Leser, ich solle mich mal mit dem „Zeitgeist“ beschäftigen. In der Mail (Briefe auf Papier sind sehr unzeitgeistig) konstatierte der Mann, dass die Zusammenziehung von Zeit und Geist heute „ein Widerspruch in sich“ sei. Ich nehme an, er meinte damit, dass in unserer Zeit viel zu wenig Geist im klassischen Sinne existiert – Bildung, Anstand, Feingefühl, Höflichkeit, Achtung voreinander und solche Dinge.

Doch, doch, manchmal habe ich dasselbe Gefühl. Allerdings sage ich mir dann auch immer, dass zu allen Zeiten die jeweils ältere Generation den Zeitgeist im Allgemeinen sowie die unzureichende Bildung der jüngeren Generationen im Speziellen kritisiert hat. Ich stelle mit Missvergnügen an mir selbst fest, dass ich zum Beispiel jede Menge Zeug in der Zeitung, also in der SZ, finde, von dem ich in erster Aufwallung denke, dass es das früher aber nicht gegeben hätte. Dann allerdings erinnere ich mich daran, wie unsere Altvorderen vor 35 Jahren über den Verfall der Sitten wiederum im Allgemeinen, also im Land, und über das allmähliche Verrotten von Stil und Grammatik auch wiederum im Speziellen, also in der Zeitung, geklagt haben. Dieser Logik folgend müsste nun eigentlich längst alles im Allgemeinen wie im Speziellen so sehr auf den Hund gekommen sein, dass selbst der Zeitgeist sich nur noch von der Sozialhilfe ernähren könnte, die heute Bürgergeld heißt. Sozialhilfe darf sie nicht mehr heißen, weil das framing wäre. Vielleicht sollte man auch den Zeitgeist umbenennen. Gegenwartsmindset? Präsenzemo?

Der Zeitgeist jedenfalls ist etwas doppelt Flüchtiges. Schon die Zeit allein ist immateriell, sie lässt sich nicht greifen oder verändern. Den meisten Menschen erscheint es so, als habe die Zeit eine „Richtung“, nämlich von gestern über heute nach morgen. Man hat nie gehört, dass sich jemand oder etwas von morgen nach heute bewegt hätte. Von gestern nach morgen wollen sich zwar viele bewegen – Friedrich Merz genauso wie Marxisten, und sogar die katholische Kirche will von vorvorgestern nach wenigstens heute kommen. Bei solchen Gedanken werden der Dimension Zeit Eigenschaften der Dimension Raum zuordnet. Hier wird „heute“ wie eine Ortsbeschreibung behandelt, so als könne man von heute nach morgen so gehen, wie man von Sendling nach Berg am Laim gehen kann. Kann man aber nicht, weswegen die Zeitreise eines der beliebtesten Sujets der fantastischen Literatur ist. Schon bei Richard Wagner, einem ganz besonderen Fantasten, singt Gurnemanz dem Parsifal diesen kryptischen Satz: „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“

Der Geist wiederum ist ebenso unfassbar wie die Zeit. Es kommt nicht von ungefähr, dass man den Geist oft mit Begriffen „beschreiben“ will, die eigentlich der Zeit zugeordnet sind: Epoche, Ära, Zeitalter etc. (Ära der Aufklärung, Zeitalter der Ideologien). Der Geist steht nahezu jeder subjektiven Definition offen, sodass von Sympathisanten oder Mitgliedern sogar Personen oder Organisationen „Geist“ zugeschrieben wird, die einer intellektuellen Spukgestalt näher stehen als einem wie auch immer gearteten Geist (der Geist der CSU, aber das ist jetzt polemisch). „Geist“ ist – so man eben nicht Spukgestalten meint – häufig positiv konnotiert (geistvoll, im Geiste der Freundschaft, Brüder/Schwestern im Geiste). Weil das so ist, glaubt der eine oder die andere, dass in schlechten Zeiten wie diesen nicht der Geist, sondern die Zeit schlecht ist. Anders als die Zeiten aber hat die Zeit gar keine Eigenschaften. Sie vergeht nur, was immer das heißen mag.

Jedenfalls ist, dieses kleine Philosophicum zeigt es, der Zeitgeist eher eine doppelte Nichtexistenz als ein Widerspruch in sich. Dieses doppelte Minus ergibt nicht Plus. Die gerade herrschende – herrscht sie denn? – Zeit kann ja auch gar keinen (guten) Geist haben, weil sonst der Zuspruch zur AfD trotz aller wichtigen urbanen Selbstvergewisserungsdemos gegen rechts nicht so hoch wäre. Und wehte der Geist wirklich über den Wassern, gar über die Wasser hinüber, könnte der nächste Präsident der USA nicht wieder Donald Trump werden. Es spricht einiges dafür, dass auch Trump eine doppelte Nichtexistenz ist. Leider kann dieses zweimalige Minus doch ein Plus ergeben, nämlich eine zweite Präsidentschaft des Gelbhaarigen. Und deren Gegenwartsmindset würde sicher der Ungeist als solcher sein.

Vielleicht ist es aber auch so, dass weder ein noch kein Zeitgeist existiert, sondern viele. Dafür spricht, dass es allein in der Bundesrepublik etliche Groß- und unzählige Kleinmilieus gibt, die jeweils mindestens einen eigenen Geist und das auch noch zu einer bestimmten Zeit zu haben scheinen. Ich war neulich in einem grandiosen Klavierkonzert zu den vier Händen von Markus Becker und Igor Levit. Das Publikum schien mir in diesen knapp zwei Stunden einen gemeinsamen Geist zu haben, bevor es sich danach wieder in verschiedene Gruppen auflöste – ampelskeptische FDP-Rentner, soziallibertäre Klavierbegeisterte, Ich-begleite-nur-meine-Frau-Anwesende, Freundinnen aus der Vorstadt und so weiter. Der vierhändige Klaviergeist, ein guter, friedlicher, andächtig machender Geist, war mächtig, nahezu spürbar im Saal. An der Garderobe draußen verflüchtigte er sich dann schnell. Es übernahm der Sie-müssen-sich-hier-von-links-anstellen-Geist.
Kurt Kister
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