Guten Morgen! Bibliothekssaal oder katarisches Fußballstadion, wie ist die Stimmung bei Ihnen?
Die Szene des Vortages
“Alles reinwerfen”, sagen Kommentatorinnen gern, um den besonders hingebungsvollen Kampf von Fußballern um Punkte zu umschreiben. Christian Pulisic nahm das wörtlich: Ohne Rücksicht aufs eigene Befinden flog der US-Amerikaner kurz vor der Halbzeit gegen den Iran in eine Hereingabe und drückte den Ball ins Netz. Dann rasselte alles, was er reingeworfen hatte, mit Irans Torwart Alireza Beiranvand zusammen. Pulisic musste ausgewechselt werden. Seine Mannschaft beförderte er mit diesem Tor ins Achtelfinale, die Iraner warf sein Einsatz aus dem Turnier. Sie fliegen nun nach Hause und wissen derzeit wohl selbst nicht, was sie dort erwartet. Noch, wie sie dieses verwirrende Turnier bewerten sollen.
Saudi-Arabien gegen Mexiko. Gute Atmosphäre ist bei dieser WM nicht selbstverständlich, teilweise liegt der Lautstärkepegel im Stadion irgendwo zwischen Bibliothekssaal und Kirchenschiff. Heute Abend wird’s aber stimmungsvoll: Die Mexikaner sind ohnehin reise- und sangesfreudig und Saudi-Arabien ist durch den Sieg gegen Argentinien zum heimlichen Liebling der arabischen Fußballwelt geworden. Gut möglich, dass selbst die Katarer sie anfeuern. Viele saudische Fans werden extra für das Spiel nach Doha fliegen. Sie haben es schließlich auch nicht weiter als der Fanclub der Nationalmannschaft. Gewinnen die Saudis, dürfen sie am Wochenende ihr erstes WM-Achtelfinale seit 28 Jahren spielen. Der Gedanke verleiht ihrem Trainermodel Hervé Renard sicher noch mal extra Energy.
Fußball-WM im Winter, das wirkt noch immer verquer. Wie wär’s mit einer klassischen Wintersportart, Eishockey vielleicht? Dort gibt es noch ehrliche Bodychecks statt alberner Schwalben und sympathische Clubs mit niedlichen Namen statt durchkommerzialisierte Fußballfranchises. In der Deutschen Eishockey Liga spielen heute Abend zum Beispiel die Fischtown Penguins, die Iserlohn Roosters, die Eisbären Berlin oder der EHC Red Bull Münche … Na ja, wie auch immer.
Wer hat uns diese WM eingebrockt?
Jacques Anouma, einst Präsident des ivorischen und des westafrikanischen Fußballverbandes. In einem Hotel in Angola soll man ihm und seinen beiden Kollegen Issa Hayatou und Amos Amadu eine Million US-Dollar für ein Votum pro Katar angeboten haben. Die drei Musterknaben lehnten natürlich ab – weil ihnen das Angebot zu niedrig war. Bei eineinhalb Millionen sollen sie dann eingeschlagen haben. Anouma streitet das ab. Unbestritten ist, dass Katar freundlicherweise den Kongress des afrikanischen Verbandes sponserte. Für 1,8 Millionen Dollar. Im Jahr der WM-Vergabe. Zufälle gibt’s.
Bald neun Prozent von RWE, wie vor rund zwei Monaten bekannt wurde. Der Energieversorger brauchte Flüssiges (Geld, nicht Gas in diesem Fall), um einen US-amerikanischen Solarspezialisten zu übernehmen. Die Qatar Holding zögerte nicht und warf 2,43 Milliarden Euro in den Topf. Damit wird sie nun größter RWE-Aktionär. Vielleicht hat sich Katar aber auch von der Buchstabenfolge verwirren lassen und wollte eigentlich den Traditionsclub Rot-Weiss Essen in Paris-St.-Germain-hafte Höhen führen.
Scheint ganz so, als habe sich Hassan al-Thawadi verplappert: Im Interview mit dem britischen TalkTV sprach Katars WM-Cheforganisator plötzlich von bis zu 500 auf WM-Baustellen gestorbenen Arbeitsmigranten – statt wie zuvor von drei. Im Anschluss bemühte sich das Organisationskomitee, die Zahl wieder einzufangen. Doch nun ist sie in den Köpfen, wie zuvor die 6.500 oder die 15.000. Wie viele Menschen tatsächlich für den Bau dieser Stadien gestorben sind, kann niemand genau sagen – was Teil des Problems sei, sagte Ellen Wesemüller von Amnesty International schon vor dem Turnier. Sicher ist, es sind zu viele.
Das Zitat des Tages
"Der Unterschied bei den WM-Spielen: Anders als im Zirkus sitzen die Clowns auf der Tribüne."
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