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Liebe/r Leser/in,

das Schauspiel ist eigentlich zu bekannt, als dass es einen noch überraschen sollte: Vor der Wahl werden die Wähler von den Parteien umworben, das Licht von den Sehenden. Doch mit Schließung der Wahllokale um 18.00 Uhr geht es wieder um das Lebenselixier der Politik: um die Macht. Und Berlin wäre nicht Berlin, wenn in der Hauptstadt diese Inszenierung nicht greller ausfallen würde als überall sonst.

So beeilten sich vor allem SPD und Grüne schon am Sonntagabend, sich gegenseitig zu versichern, es spreche bei näherer Betrachtung doch nichts dagegen, die Koalition mit der Linken fortzusetzen – Niederlage hin oder her. Garniert wurde das mit wohlfeilen Sprüchen: Natürlich müsse sich etwas ändern, ein Weiter-so dürfe es nicht geben, man müsse das Wahlergebnis ernst nehmen. Doch was sich konkret ändern müsste – Fehlanzeige. Natürlich wäre – das versteht eigentlich jeder – eine neue Regierung mit einem neuen Regierenden Bürgermeister die beste Garantie dafür, dass sich tatsächlich etwas ändert. Doch genau das halten die Führungen von SPD und Grünen für falsch – mit abenteuerlich anmutenden Argumenten.

Michael Müller, der als langjähriger Regierender von Berlin deutlich mehr Anteile am Untergang der SPD hat als seine Nachfolgerin Franziska Giffey, argumentierte: „Die Wählerinnen und Wähler wollten offensichtlich eine starke CDU, aber nicht zwingend Kai Wegner als Regierenden Bürgermeister.“ Mutig, wenn man selbst etwas mehr als 18 Prozent hat. SPD-Chef Lars Klingbeil befand, Giffey habe eine zweite Chance als Stadtoberhaupt verdient – was nur mit Grünen und Linken ginge, auf keinen Fall aber mit der CDU. Klingbeils Co-Chefin Saskia Esken stellte noch vor der ersten Sondierungsrunde mit der CDU deren Koalitionsfähigkeit infrage: Inhaltlich konzeptionslos habe sie nur den Unmut in der Stadt populistisch für sich genutzt.

Doch dieser Unmut ist mit der Gewalt eines Tsunamis über die SPD hereingebrochen. Die Partei von Ernst Reuter, Willy Brandt und Klaus Wowereit hat in keinem der zwölf Stadtbezirke noch eine Mehrheit. Neun Bezirke gingen an die CDU, drei an die Grünen. Nur in vier von 78 Wahlkreisen haben SPD-Bewerber noch das Direktmandat geholt. Giffey selbst und der mächtige SPD-Fraktionschef Raed Saleh schaffen es nur über die Landesliste ins neue Abgeordnetenhaus. Saleh wurde im Wahlkreis Spandau 2 vom CDU-Bewerber Ersin Nas mit 33,2 zu 26 Prozent abgehängt.

Die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch landete in Spandau 2 sogar nur auf Platz vier – hinter AfD-Mann Tommy Tabor. Und auch der Spitzenkandidat der Linken, Klaus Lederer, scheiterte im Wahlkreis Pankow 3 an der Grünen Oda Hassepaß.

Mit einem Wort: Das Führungspersonal von Rot-Grün-Rot ist am Sonntag bei den Wählern komplett durchgefallen. Auch wenn die drei Wahlverlierer noch rechnerisch über eine Mehrheit verfügen – nicht wirklich überraschend in einem Fünf-Parteien-Parlament –, ist es mir unbegreiflich, wie man daraus einen Wählerauftrag zum Weitermachen ableiten kann.

Das hinderte die Spitzen-Grüne und Verkehrssenatorin Jarasch nicht, schon in der ersten Stunde nach Schließung der Wahllokale immer wieder ihre Präferenz für die Fortsetzung des Bündnisses mit SPD und Linken zu betonen und von einer „progressiven Koalition“ als ihrem Ziel zu sprechen. Schwarz-Grün war damit eher nicht gemeint. Die SED-Nachfolgepartei Die Linke, die auch mehr als drei Jahrzehnte nach dem Untergang der DDR noch auf Verstaatlichungen setzt, hielt sich zurück. Sonst wäre vielleicht noch aufgefallen, dass Die Linke 7000 Stimmen ausgerechnet an die AfD verloren hat, netto betrachtet mehr als jede andere Partei übrigens (Infratest dimap).

Wenn es tatsächlich zu einer Fortsetzung von Rot-Grün-Rot kommen sollte, dann nicht im Interesse der Stadt, sondern der drei Parteien. Die Linkspartei, deren politisches Lebenslicht seit Längerem flackert, ist existenziell auf die Regierungsbeteiligung angewiesen. Und im Willy-Brandt-Haus schlottert die SPD-Spitze vor Angst bei dem Gedanken, in Berlin könnte es wie in Nordrhein-Westfalen zu Schwarz-Grün kommen. Den Bundeskanzler Olaf Scholz gibt es schließlich nur, weil die Grünen nach der Bundestagswahl nicht bereit waren, einer Jamaikakoalition unter Führung der Union zur Mehrheit zu verhelfen. Schwarz-Grün in Berlin könnte also auf Dauer die Macht der SPD im Bund bedrohen. In der Hauptstadt wäre man dann – wohl auf längere Zeit – ohnehin in der Opposition.

Die Basis der Grünen wiederum bekommt Albträume schon bei dem Gedanken, welche Kompromisse sie für ein Bündnis mit der CDU bei Autoverkehr, Wohnungsbau, Migration und innerer Sicherheit verkraften müsste. „Grün und Gerecht“ war das – von Fritz-Kola wörtlich abgekupferte – Wahlkampfmotto von Jarasch. Gemeint war: Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit. Die Berliner Grünen sind klar im linken Lager verortet, sodass man auch von Rot-Rot-Rot sprechen könnte.

Ja, es ist ein gefährliches Spiel, das SPD, Grüne und Linke in Berlin spielen. Es ist nicht zuletzt ein Spiel mit der Akzeptanz unseres demokratischen Systems, wenn die drei Parteien den Wählerwillen derartig zu ihrem Vorteil verbiegen.

„Befreit“ von solchen Sorgen sind die Liberalen, denen die Wähler erneut in einem Landesparlament den Stecker gezogen haben. Dazu hat sicherlich die Polarisierung zwischen der CDU und Rot-Grün-Rot beigetragen, aber auch das Wegducken der FDP vor wichtigen Themen, wie der Wohnungsnot. Statt klar zu sagen, dass man Wohnungsmangel am besten mit mehr Wohnungsbau bekämpft und dass man dafür private Investitionen anlocken muss, schob man eine Verwaltungsreform in den Vordergrund.

Eher putzig mutete die Debatte unter Liberalen darüber an, ob die streitbare Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann mit ihrer Polemik beim Aachener Karneval gegen CDU-Chef Friedrich Merz („Flugzwerg aus dem ­Mittelstand“) vor einer Woche zu dem Debakel geführt habe. Mir scheint da die Analyse von FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki stringenter zu sein: „Es fehlt momentan die Erzählung. Es fehlt die Vermittlung des Lebensgefühls.“

Man tritt Kubicki sicher nicht zu nahe, wenn man ihn so zusammenfasst: Liberal kommt nicht von lieb.

Herzlich Ihr

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Robert Schneider,
Chefredakteur FOCUS-Magazin

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