Liebe/r Leser/in, Haben Sie vielleicht meinen Impfpass gesehen? Gerade noch, so hätte ich schwören können, ruhte er sicher und griffbereit in dem Karton mit den Fotos, Briefen, dem Konfirmationskreuz und dem Ticket des Patti-Smith-Konzerts von 1979. Jetzt ist der Pass weg. Wenn Sie ihn irgendwo finden, könnten Sie dann bitte auch gleich mal die Umgebung nach einem alten französischen Klappmesser mit hölzernem Griff absuchen? Es sieht ein wenig schäbig aus, aber ich hänge daran. Immer lag es im Auto, in der Ablage der Fahrertür. Jetzt ist es weg. Einfach verschwunden. So wie der Walkman, das erste Buch von Thomas Pynchon und diese merkwürdige Mahnung unseres Stromanbieters.
Dauernd verschwinden irgendwelche Dinge. Es ist nicht so, dass ich sie liegen lasse, wegwerfe oder vor mir verstecke. Nein, es sind die Dinge selbst, die sich laut- und spurlos absentieren. Sie tauchen unter. Womöglich nutzen sie irgendeinen geheimen Ausgang, um sich mir zu entziehen. Oder sie werden ins Unsichtbare gesaugt. Schon seit Längerem vermute ich, mein Arbeitszimmer könnte eine Art Bermuda-Viereck sein. Die quadratische Außenstelle eines Schwarzen Lochs. Es beunruhigt mich ein wenig, dass ich nicht der Einzige bin, dem auf unmögliche Weise alles Mögliche abhanden kommt. Christian Morgenstern etwa wusste von einem Gespenst zu dichten, das ihn auf Reisen begleite und seine Taschentücher fresse. Wenn er mit achtzehn Tüchern losfahre, komme er nur mit „acht bis sieben“ heim. „Ein Gram der Hausfrau.“
Ähnlichen Gram verspürt wohl gerade Annegret Kramp-Karrenbauer. Die Hausherrin im Verteidigungsministerium musste erfahren, dass bei der Elitetruppe der Bundeswehr, dem Kommando Spezialkräfte (KSK) über Jahre Gewehre, Granaten und Sprengstoff verschwanden. Gut, ein Teil der Knallware tauchte vor Kurzem wieder im Garten eines KSK-Soldaten auf, der glaubte, sich mit einer privaten Rüstkammer gegen imaginäre Feinde wappnen zu müssen. Doch trotz intensiver Suche konnten 48.000 Schuss Munition nicht wiedergefunden werden. 48.000 Patronen! Also ein Gespenst allein, auch wenn es noch so gefräßig wäre, würde sich an einer solchen Menge den Magen verderben.
Dabei wirkt das Munitionsmysterium geradezu verschwindend klein im Vergleich zu dem Wahnsinnsschwund, der jetzt bei dem Unternehmen Wirecard bemerkt wurde. Die Prüfer konnten den Verbleib von 1,9 Milliarden Euro nicht klären. Das Geld ist nicht etwa in irgendeinem Koffer, einer Brieftasche oder in einem Schweizer Schließfach gelandet. Es ist weg. Futsch. Verschwunden. Es heißt, es sei nie da gewesen.
Auch diese Fata Moneta, so spektakulär sie sein mag, reiht sich ein in eine große, ja endlose Geschichte des Verschwindens. Seit jeher geht irgendetwas verloren. Wir vermissen Schätze, Manuskripte, Kunstwerke. Unseren Blicken entziehen sich urplötzlich Schlüssel, Kleider, Aktenordner, Möbelstücke, Bauwerke, Flugzeuge, Schiffe und sogar ganze Inseln. Ausgelöscht ist die Raumsonde „Cassini“, verschwunden sind die weltweit ersten Funde des neuartigen Coronavirus.
Die Causa Corona zeigt, dass es nicht nur Dinge sind, die sich auf- und davonmachen. Wir verlieren auch immer wieder etwas von jener unsichtbaren und kostbaren Ressource, die wir für unser Überleben doch so dringend benötigen. Wir verlieren Zeit. Das belegt etwa die Geschichte der Münchner Ärztin Camilla Rothe. Bereits Ende Januar fand sie Anhaltspunkte für einen schwerwiegenden Verdacht. Corona-Patienten, so ihre dramatische und gut begründete Entdeckung, können andere Menschen mit dem Virus selbst dann infiziren, wenn sie selbst noch keine Symptome der Krankheit aufweisen. Ihren Befund veröffentlichte sie sofort auf einer Webseite einer bedeutenden medizinischen Fachzeitschrift. Sie wollte die Welt vor den unheimlichen Fähigkeiten des neuen Virus warnen.
Doch die Welt wollte offenbar nicht hören. Über Wochen versuchten andere Wissenschaftler, die Erkenntnisse von Camilla Rothe kleinzureden und zu diskreditieren. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und, so ergaben Recherchen der „New York Times“, das deutsche Robert Koch-Institut (RKI) beteiligten sich an dieser Kampagne. Deshalb verhallte Rothes so wichtige Mahnung über Monate. Heute wissen wir, dass sie recht hatte: Ein großer Teil der Corona-Übertragungen findet unbemerkt noch während der Inkubationszeit Infizierter statt. Was brachte die Welt dazu, Rothes Erkenntnis zu übersehen? War es Neid, Missgunst oder schlicht Trägheit? Kostbare Zeit ging jedenfalls verloren. Und wie immer gilt: Wenn wir Zeit vergeuden, lassen wir Möglichkeiten ungenutzt.
Auch wenn uns das morgen und übermorgen wieder passiert – wir können und wollen uns einfach nicht daran gewöhnen. Möglichkeiten und Chancen nicht zu nutzen, Zeit zu verlieren, ärgert uns. Weil wir spüren, dass uns, wenn wir nicht aufpassen, etwas noch Wichtigeres verloren zu gehen droht: der Glaube an uns selbst.
Wie Sie Ihre innere Kraft und Ruhe bewahren, darüber berichten wir in unserer Titelgeschichte. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihr Vertrauen in die Welt und in sich selbst nie verlieren. Und wenn doch: dass Sie es wiederfinden. Vielleicht entdecken Sie ja in der Nähe auch meinen Impfpass. Diese merkwürdige Mahnung können Sie liegen lassen. Aber das alte Klappmesser hätte ich gerne wieder. |