von Christian Spiller Ressortleiter Sport, ZEIT ONLINE
Guten Morgen. Schon schade. Zumindest für Deutschland ist diese EM vorbei. Aber war doch eigentlich mal wieder ganz nett, oder?
Die Szene des Vortags
War das nicht Hand? Als Spaniens Marc Cucurella den Ball in der 106. Minute an die Hand bekam, ging ein Aufschrei durchs Stuttgarter Stadion und sicher auch durch unzählige Wohnzimmer des Landes. Der Schiedsrichter Anthony Taylor aber gab keinen Elfmeter, und weil die deutsche Nationalelf in der Verlängerung noch 1:2 verlor, darf über diese Szene natürlich inbrünstig gestritten werden. Denn was wäre Fußball ohne Schiedsrichterdiskussionen? "Eine Szene, drei Meinungen", schreibt mein Kollege Fabian Scheler und findet, wie das bei Handspielen heutzutage eben so ist, Argumente für und gegen einen Elfmeter. Was unstrittig ist: Trotz des Aus im Viertelfinale hat die Nationalelf während der EM Fans zurückgewonnen. Denn Ausscheiden ist nicht gleich Ausscheiden, wie Oliver Fritsch schreibt, der das im Spiel im Stadion gesehen hat.
Niederlande gegen die Türkei (21 Uhr, RTL). Die 141 Dezibel stehen gar im Guinnessbuch der Rekorde, 2013 stellten die Fans von Besiktas in ihrem Stadion in Istanbul einen Weltrekord im Lärmmachen auf. Ob es im Berliner Olympiastadion auch so laut wird? Relevant ist das Spiel in jedem Fall. Sportlich, weil die Türkei es erstmals seit 2008 wieder in ein Halbfinale schaffen könnte. Leider geht es nicht nur um Sport. Nachdem der Türke Merih Demiral den Wolfsgruß gezeigt hatte, das Symbol der Grauen Wölfe, wie die Anhänger der rechtsextremen Ülkücü-Bewegung genannt werden, bestellten die Türkei und Deutschland gegenseitig ihre Botschafter ein. Nicht zu verwechseln ist die Geste übrigens mit dem Schweigefuchs, wie der Deutsche Lehrerverband lautstark warnte. Demiral wurde von der Uefa für zwei Spiele gesperrt, eigens anreisen wird dafür Recep Tayyip Erdoğan, der türkische Präsident möchte seine Fußballer unterstützen. Er spielte auch mal selbst. Bei einem Promikick machte er mal innerhalb von 15 Minuten drei Tore. Die Gegenwehr war allerdings – wen überrascht’s? – überschaubar.
Das weitere Spiel:
England – Schweiz (18 Uhr, ZDF)
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Wer wird heute wichtig?
Murat Yakin. Wegen ihm dürfen wir endlich oberflächlich sein, weil es alle anderen auch sind: Der Schweizer Trainer ist das Sexsymbol dieser EM. Die große Brille, das zurückgekämmte Haar mit den grauen Einsprengseln, die hohen Wangenknochen, der melancholische Blick. Die New York Times erinnert Yakin an Adam Driver in der Rolle des Maurizio Gucci. Die NZZ sieht eine Mischung "aus Hausi Leutenegger, Elvis Presley und John Travolta". (Ja, Hausi Leutenegger musste ich auch googeln.) Ob David Schwimmer, Jeff Goldblum, Mads Mikkelsen – Yakins Fans sehen in ihm jede Menge Lookalikes. Sportlicher Erfolg schadet natürlich auch nicht. Zum zweiten Mal in Folge steht die Schweiz in einem EM-Viertelfinale. Gegen England ist einiges möglich, die spielen bisher furchtbar langweilig, vielleicht bringt die neue Regierung ja Schwung. Englands Trainer Gareth Southgate wurde in der diesjährigen Erhebung des Sexiest Mans Großbritanniens übrigens Vierter.
Diesmal wird es kein Sommermärchen geben. Das ist wirklich schade für eine sympathische deutsche Mannschaft, die ihren Neuaufbau jetzt beschleunigen muss. Vielleicht war das unberechenbare und oft raue Wetter, das das Land während der K.o.-Phase heimsuchte, ein Vorbote dafür. Das gesamte Turnier bleibt eine Freude, auch wenn die Stimmung etwas verhaltener war als 2006. Ich habe auf Schritt und Tritt Wärme, Menschlichkeit und großzügige Gastfreundschaft erlebt; ich habe gesehen, wie ein abgrundtief unhöflicher Besucher in einer Leipziger Wurstschlange höflich, aber bestimmt weggeschickt wurde, weil er sich über die Arbeitsgeschwindigkeit des einzigen Angestellten beschwert hatte. Die Geschichte hat noch ein paar Kapitel vor sich, aber ein wenig von ihrem Zauber könnte in Stuttgart verloren gegangen sein.
Die Floskel des Tages
"hospital pass"
(Krankenhauspass, Englisch)
Ein schlecht gespielter Pass, der den Mitspieler in einen schmerzhaften Zweikampf schickt. Im deutschen Begriff "Knochenbrecherpass" ist der Abtransport per Krankenwagen noch nicht inbegriffen. In anderen Ländern wird wiederum erst nach dem Krankenhaus angesetzt: In Nigeria etwa gilt ein solcher Ball als "cemetery pass", als Friedhofspass also.
Österreich, im American Football. Es mag etwas seltsam klingen, Europameister im American Football zu sein, aber auf die Knochen gibt es bei diesem Sport auch außerhalb seines namensgebenden Kontinents. Bei der EM 2023 im österreichischen Sankt Pölten konnte sich der Gastgeber im Finale gegen Finnland mit 28:0 durchsetzen. Es ist bereits das dritte Mal, dass die Österreicher im Finale standen, sie scheinen eine Macht zu sein in Europa. Wir fragen: Wann wird der Sport in Austrian Football umbenannt?
"Dass wir alle zueinanderhalten, das darf nicht nur am Fußball liegen."
(Julian Nagelsmann recht ergriffen mit einer Botschaft ans Land nach dem Viertelfinale gegen Spanien)
Das war die Spezialausgabe unseres Was-jetzt?-Newsletters zur Fußball-EM 2024. Sie erscheint an allen Spieltagen zusätzlich zur Morgenausgabe. Also wieder am Dienstag. Keine Lust auf Fußball? Der 6. Juli ist der internationale Tag des Kusses. Worauf warten Sie noch?