Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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2. Februar 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
wenn man die Welt verstehen will, muss man ihre Veränderung begreifen. Das ist schwierig, weil es jenseits der verständlichen Veränderungen auch solche gibt, die unverständlich sind. Jede Menge sogar. Oder sie sind vordergründig zwar verständlich, aber man sagt: „Das verstehe ich überhaupt nicht“, weil man es nicht verstehen will, auch wenn man es könnte. Nein, es soll jetzt und hier nicht wieder einmal von den üblichen Will-nicht-verstehen-Dingen die Rede sein, also von TrumpAfDPutinScheißwelt-Dingen. Nehmen wir lieber das Spezi.

Spezi ist, wie man selbst in Eutin weiß, ein Cola-Limo-Mischgetränk, das Spezi heißt, weil auch Papiertaschentücher alle Tempo heißen. Wenn man früher in einer bayerischen Wirtschaft ein Spezi – es gibt Menschen, die falsch gendern und der Spezi sagen, wahrscheinlich weil das Spezi ungekühlt labbrig schmeckt – bestellt hat, bekam man einen halben Liter. So gehört es sich – zumal in einem Land, in dem volksheldenhafte Wirte gelegentlich Bitte-ein-kleines-Bier-Norddeutschen eine Maß auf den Tisch stellten und sagten: „Do hosd dei kloans Bier.“

Seit geraumer Zeit, ungefähr seit Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde, gab es fast nur noch 0,4 Liter Spezi in Wirtschaften und Restaurants, ohne dass es deswegen billiger geworden wäre. (Das ist die Weselsky-Weltveränderung: weniger Spezi fürs selbe Geld). Neuerdings schenkt der Italiener in dem Münchner-Peripherieort, an dem ich zu wohnen habe, Spezi in 0,33-Liter-Flaschen aus. Kostet genauso viel. Noch mehr Weselskysmus. Und schließlich, o tempora, o minimum volumen, wurde mir dieser Tage in einem Museumscafé am See ein Spezi in einem 0,2-Liter-Glas serviert, für 2,90 Euro. Weselskyssimum.

Man könnte dieser Klage nun entgegenhalten: Dann trink halt kein Spezi, Depp, ist sowieso bappad süß (bappad steht in Bayern für klebrig, etwa so wie in die Klimabappadn, die aber jetzt nicht mehr bappad sein wollen). Ist schon wahr, viel Zucker, unvernünftig. Aber wenn man’s halt trotzdem mag ...

Das gehört ja auch zur Weltveränderung: Manches, was man unvernünftigerweise mag, soll man nicht mehr tun, weil es den Planeten gefährdet, blöd ist und außerdem vielleicht auch schon in der Nazi-Zeit existierte. (Wenigstens stammt Spezi nicht aus der Nazi-Zeit, es wurde 1965 erstmals verkauft.) Es ist aber halt schwierig, manche alte Gewohnheiten aufzugeben, noch dazu wenn es so viele sind. Ich kenne das: Das Schwein ess ich nicht mehr und das Rind kaum, ein Flugzeug hab ich seit Jahren nicht mehr bestiegen, ich geh viel zu Fuß. Ob die Welt aber deswegen besser geworden ist?

Das mit der immer kleiner werdenden Limonade zum gleichbleibenden Preis, nehme ich mit meinen zwei Semestern Nebenfach-Volkswirtschaft an, ist ohnehin ein Problem des alten Kapitalismus und nicht der neuen Zeit. Das beginnt schon mal damit, dass es früher im Sozialismus, also zum Beispiel in der DDR, gar kein Spezi gab. Wo es etwas nicht gibt, kann es auch nicht teurer werden. Möglicherweise war dies der theoretische Hintergrund der sozialistischen Mangelwirtschaft. Aber, wie gesagt, ich hab nur zwei Semester Volkswirtschaft, und wenn ich mehr VWL studiert hätte, würde ich jetzt wahrscheinlich einen politischen Newsletter gründen. Im Moment nämlich habe ich das Gefühl, dass viele, die mehr als zwei Semester VWL oder sonst was studiert haben, hochinteressante Newsletter mit Sitz in Berlin gründen, von denen einer exklusiver ist als der andere. Möglicherweise ist das die Zukunft des Journalismus. Vielleicht aber auch nicht, weil es wahrscheinlich in drei Jahren mehr Newsletter gibt als sogenannte Entscheider, die diese Newsletter lesen und bezahlen sollen.

Aber zurück zum Kapitalismus: Das Spezi in der Wirtschaft wird durch Teuerung künstlich verknappt, was es zum noch gefragteren Gut macht. Das ist die eine Erklärungsmöglichkeit. Teuer ist gleich wenig. Allerdings sind, anders als bei den Seltenen Erden, die Spezi-Vorräte praktisch unerschöpflich, sodass die Verteuerung des eigentlich nicht knappen Gutes an Grenzen stößt. Irgendwann könnte es, folgt man Lenin, eine Revolte der Limotrinker geben.

Die andere Möglichkeit: Es ist wurscht, was das Spezi kostet, die Leute saufen – das vulgäre Verb wird hier aus stilistischen Gründen benutzt – es trotzdem. Auf dem Oktoberfest hat der Liter Spezi letztes Jahr durchschnittlich 11,65 Euro gekostet, hie und da aber auch 14. Wenn man das 0,2-Liter-Spezi aus dem Museumscafé für 2,90 nimmt und es auf die Maß umrechnet, kostet es praktisch genauso viel wie auf der Wiesn. Das wiederum legt irgendwie nahe, dass die Preise sich überhaupt der Wiesn angleichen, dass die Wiesn alsbald die benchmarks für den Alltag setzt. Diese Form der Münchner Wiesnökonomie ist regionalspezifisch, weil kaum irgendwo sonst im Land so viele Menschen wie in München und um München wohnen, denen es relativ wurscht ist, was sie fürs Essen und Trinken und auch sonst bezahlen (das könnte man auch viel vulgärer sagen). Allerdings wohnen in dieser Region auch viele Menschen, die sich’s eigentlich nicht leisten können und sich dennoch mehrheitlich – jedenfalls in Wahlergebnissen ausgedrückt – ganz unsozialistisch fühlen. In Bob Dylans „Tangled up in blue“ gibt es die Zeile: „Revolution was in the air“. Das ist in München, der Hauptstadt des Spezi-Kapitalismus, anders.
Kurt Kister
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