Lieber Herr Do,
natürlich ist das Video „eklig“, wie es Bundeskanzler Scholz formulierte. Die Rede ist von der 14-sekündigen Bewegtbild-Sequenz, die am Pfingstwochenende auf der Terrasse eines Sylter Schickimicki-Clubs aufgenommen wurde und seit Tagen nicht nur in den sogenannten sozialen Medien viral geht. In dem kurzen Clip zu sehen ist, wie eine feiernde Gruppe junger, offensichtlich wohlhabender Menschen zu der Melodie eines bekannten Dance-Tracks die nicht weniger bekannte Neonazi-Parole „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ grölt. Einer der auf dem Video zu sehenden Partygäste streckt fröhlich in die Kamera blickend den rechten Arm zum vermeintlichen Hitlergruß aus und deutet mit zwei Fingern der anderen Hand ein sogenanntes Hitlerbärtchen an. So weit, so verstörend. 

Das Skandal-Video und seine Folgen sind allerdings auch ein Paradebeispiel dafür, wie in unserer heutigen Medienökonomie selbst Mikroereignisse in kürzester Zeit zu gewaltigen Lawinen anwachsen können, die Opfer und Täter mit sich reißen und unter sich begraben. In meinem Newsletter letzte Woche nahm ich Bezug auf das Grundgesetz und schloss meinen Text mit dem Artikel 1 unserer Verfassung: Die Würde des Menschen ist unantastbar. An diesen Satz musste ich in den letzten Tagen mehrfach denken. 

Wie konnte dieses private Handy-Video eigentlich den Weg in die bundesweiten Hauptnachrichten finden? 
Aufgenommen wurde der Clip von einem männlichen Mitglied der Party-Gruppe, mutmaßlich dem Freund der jungen Frau, die in Nahaufnahme in dem Skandal-Video zu sehen ist. Der Verfasser des Machwerks hat die Sequenz aber offenbar nicht selbst in den sozialen Medien geteilt. Das Video soll zuerst über eine private Chatgruppe der Feiernden verbreitet worden sein. Wie es den Weg in die Social-Media-Öffentlichkeit finden konnte, ist nicht lückenlos aufzuklären. Fakt ist aber, dass reichweitenstarke Medienschaffende dem Sylt-Video binnen kürzester Zeit zum viralen Durchbruch verhalfen. So teilte der Satiriker Jan Böhmermann (mehr als 2.789.000 Follower auf „X“) das unverpixelte Video als einer der ersten in seinen Social-Media-Kanälen, verbunden mit der Frage: „Wer und wo sind diese Leute?“ Sofort teilten und kommentierten Tausende Internet-User den Böhmermann-Tweet. Als dann die „Bild“-Zeitung das Video der „Nazi-Schnösel“ zur Schlagzeile machte, verbreitete sich die Geschichte rasend schnell auf allen Plattformen. Von „Tagesschau“ bis „FAZ“: Der Sylter „Nazi-Skandal“ war binnen Stunden Thema in allen Medien.

Und auch die Reaktion der deutschen Politiker-Elite ließ nicht lange auf sich warten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) in einem Interview mit der Funke-Mediengruppe: „Wer Nazi-Parolen wie ‚Deutschland den Deutschen – Ausländer raus‘ grölt, ist eine Schande für Deutschland.“ Grünen-Chefin Ricarda Lang zeigte sich ebenfalls geschockt: „Wenn ich so was sehe, dann wird mir einfach nur schlecht. Dann kann ich das kaum ertragen.“ Sie frage sich: „Was ist das für eine Wohlstandsverwahrlosung? Was ist das für ein absurder Wahnsinn?“ Auch der schleswig-holsteinische Regierungschef Daniel Günther (CDU) will in dem Video eine „schlimme Wohlstandsverwahrlosung“ erkennen und kündigt an, „gegen solche Taten mit aller Härte“ vorzugehen. Kanzler Scholz hält solche Parolen für „nicht akzeptabel“, und  die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) fordert sogar die „Höchststrafe“ für die Sylter „Ausländer raus“-Rufer.
Eine Welle der Empörung schwappt durch das Land. Und die Folgen des kollektiven Entsetzens bekommen die Hauptdarsteller des Skandal-Videos nur wenige Stunden nach dessen Veröffentlichung am eigenen Leib zu spüren. Denn längst hat der Staatsschutz Ermittlungen gegen einige der Beiteiligten eingeleitet wegen dringenden Verdachts der Volksverhetzung. Und mindestens zweien der von der „Bild“-Zeitung als Sylter „Nazi-Schnösel“ bezeichneten „Rich Kids“ wurde inzwischen von ihren jeweiligen Arbeitgebern die fristlose Kündigung übermittelt. Ob sich die vermeintlich rechtsradikalen Yuppie-Hetzer aus „gutem Haus“ mit den gefilmten Taten aber tatsächlich strafbar gemacht haben und ob die ausgesprochenen Kündigungen rechtskräftig sind, daran haben Rechtsexperten wie etwa der Strafverteidiger Burkhard Benecken durchaus ihre Zweifel. 

Fallen Parolen wie „Ausländer raus“ in Deutschland unter freie Meinungsäußerung, oder sind sie grundsätzlich strafbar?

„Diese Frage ist unter deutschen Strafgerichten umstritten“, sagt Benecken der „Rheinischen Post“. „Allein die Äußerung dürfte ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht ausreichen, weil Volksverhetzung ein ‚Aufstacheln‘ verlangt und die Meinungsfreiheit besonders geschützt ist.“ Parolen wie „Ausländer raus“ gelten also nicht per se als strafbar. Um eine strafbare Volksverhetzung anzunehmen, muss zum Beispiel die Verwendung von NS-Kennzeichen hinzukommen. „Die Rufe auf Sylt waren zwar geschmacklos, sie stacheln aber nicht zu Hass an und rufen auch nicht zu Gewalt auf“, sagt Benecken. Auch eine Störung des öffentlichen Friedens würde eine Staatsanwaltschaft wohl verneinen, so der renommierte Strafverteidiger.

Bei aller berechtigten Empörung über die menschenverachtende Dummdreistigkeit der singenden Sylt-Idioten: Handelt es sich bei der medialen Berichterstattung über das Skandal-Video noch um eine journalistische Aufklärungsleistung, oder muss man hier viel mehr schon von einer medialen Hetzjagd sprechen?
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Fakt ist, dass fast ganz Deutschland jetzt die Namen der im Video gezeigten Personen kennt, inklusive Wohnort und Arbeitgeber. Schnell bildeten sich gerade in den sozialen Foren und Kanälen Communities, die dazu aufriefen, die Identitäten der handelnden Personen ausfindig und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dazu trägt auch bei, dass viele Medien bei der Verbreitung des Videos bewusst darauf verzichten, die gezeigten Personen unkenntlich zu machen. Mit fatalen Folgen für die Betroffenen. Und sogar Unbeteiligte werden inzwischen vom digitalen Mob an den Pranger gestellt und mit Hassnachrichten überzogen. Ob es die Betreiber des Sylter „Pony“-Clubs sind, dem Tatort des Geschehens, oder Menschen, die zufällige Ähnlichkeiten mit den Sylt-Grölern haben. So klagt eine Frau in einem „TikTok“-Video, dass sie seit Tagen mit Tausenden Hassnachrichten überschüttet werde. Ihr Vergehen: Sie sei ähnlich blond und habe einen ähnlich klingenden Namen wie die Frau aus dem Skandal-Video.  
Porsche, Mercedes und Co.: Der Pony Club in Kampen auf Sylt gilt als Top-Adresse für die Schickeria
Credit: Imago
Tragen also nicht all diejenigen ebenfalls zur Verrohung und Spaltung der Gesellschaft bei, die Menschen ohne jeglichen Skrupel öffentlich an den Pranger stellen und dabei in Kauf nehmen, dass Existenzen innerhalb von Stunden vernichtet werden? 

Um hier nicht falsch verstanden zu werden: Ich verurteile das dämliche und ausländerfeindliche Verhalten dieser Sylt-Schwachmaten aufs Klarste. Aber: Wer glaubt, dass er die Gesellschaft besser macht und den offenbar zunehmenden Alltagsrassismus sinnvoll bekämpft, wenn er sich an einer öffentlichen Denunzierung beteiligt, sollte sich fragen, ob ihm seine eigene Selbstgerechtigkeit nicht den Blick aufs Wesentliche verstellt. 

Ja, der Electro-Dance-Hit „L’Amour Toujours“ des italienischen DJs Gigi D’Agostino ist nicht erst an diesem Sylter Party-Wochenende zum ausländerfeindlichen Deutschland-den-Deutschen-Schlager uminterpretiert worden. Ob bei Dorffesten landauf landab, in Party-Videos bei TikTok oder auf Parteitagen der AfD – der rund 20 Jahre alte Song ist längst zu einer rechten Chiffre geworden. So wurde beispielsweise beim Politischen Aschermittwoch des AfD-Ortsverbands Rödermark (Offenbach) die Melodie samt Karnevalstusch unter dem Gelächter der Anwesenden im Saal eingespielt. Der AfD-Abgeordnete Matthias Helferich kommentierte das auf der Bühne so: „Ich bin froh, dass ihr alle den Liedtext vergessen habt.“
Liebe immer: Die deutsche Übersetzung des Titels „L'Amour Toujours“ sei die einzige Bedeutung, die das Lied hat, sagt D'Agostino im Zuge des Missbrauchs seines Songs
Credit: Imago
Jetzt soll der musikalisch überschaubar originelle, aber erfolgreiche Club-Hit des italienischen Star-DJs selbst auf dem Index landen. So haben die Organisatoren des Münchner Oktoberfestes bereits angekündigt, dass „L’Amour Toujours“ auf der diesjährigen Wiesn nicht gespielt werden darf. Damit wollen sie möglichem Missbrauch vorbeugen. Und auch die Veranstalter des Stuttgarter EM-Fan-Festes werden den Song nicht spielen. Was mancher schon jetzt kopfschüttelnd mit den Worten kommentiert, dass man dann auch Kugelschreiber verbieten müsse. Schließlich könne man mit diesen auch Hakenkreuze an die Wand kritzeln.

Vielen Ereignissen in diesen Zeiten sollte man am besten mit einer ordentlichen Portion Gelassenheit und Humor begegnen. 

Herzlichst,

Ihr
Florian Boitin, Chefredakteur
boitin@playboy.de
 
 
 

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