Bonjour de Paris,
plötzlich geht alles ganz schnell. Gerade noch dieser unfassbare Moment, in dem die Stange bei Steve Guerdat im Parcours fällt, und klar ist: Christian Kukuk ist Olympiasieger. Deutschland hat alle drei Einzelgoldmedaillen bei diesen Olympischen Spielen von Paris 2024 gewonnen. Unfassbar. Christian muss sofort von TV-Station zu TV-Station. Alles rennt ins aufgeregte Pressezentrum, schreibt Meldungen, Fotografen laden ihre Bilder herunter. Telefone klingeln, in babylonischem Sprachengewirr wird sich ausgetauscht, alle sind im Stress. Und so recht kann es noch keiner glauben, dass dies der letzte Parcours war. Nicht nur für die Olympischen Spiele, sondern in diesem Stadion im Park von Versailles, an das man sich so gewöhnt hatte. Auf Du und Du mit dem Schloss von Versailles, das hatte was. „Kann man sich dran gewöhnen an so einen Schlosspark“, hatte Isabell Werth in der ihr so typischen Art gesagt.
*
Die Tastaturen glühen, hektisch wird in unterschiedlichen Sprachen nachgefragt, wo welcher Fehler passierte, wie noch mal die erlaubte Zeit genau war, und welcher Sprung denn wohl am häufigsten gefallen ist, beziehungsweise das größte Problem in dem Finalparcours dargestellt hat. Die Antwort war ganz einfach, 5B, der Aussprung der ersten zweifachen Kombination. Das Hindernis, an dem Martin Fuchs, der Schweizer, der zu den Top-Favoriten zählte, den linken Steigbügel verlor. So unglücklich baumelte das so dringend benötigte Hilfsmittel vor seinem Knie, dass er im Verlauf des gesamten Rests des Parcours, immerhin noch weitere 13 Sprünge, es nicht mehr schaffte, ihn wieder zu erlangen. Gegen eine 1,90 Meter hohe und fast 2 Meter weite Triple Barre mit einem Bügel zu reiten, das allein ist ja schon medaillenverdächtig.
Irgendwie waren diese drei, die das Stechen erreicht hatten, die einzigen Nullfehlerritte, nur die logische Konsequenz der Tage von Paris. Wie undankbar, wie gemein wäre es doch gewesen, hätte noch ein vierter Bewerber – oder eine Bewerberin – auch ins Stechen gemusst, um dann den Platz vier, den schrecklichsten aller Plätze, zu erringen. Bei der Pressekonferenz saßen die drei und Steve Guerdat erzählte noch einmal, was er denn Christian Kukuk, dem neuen Olympiasieger, da ins Ohr geflüstert hatte beziehungsweise bei einer Umarmung zu erzählen hatte. Ganz einfach: Er riet Christian Kukuk, seinen Titel zu genießen. In der Rückschau, so der Olympiasieger von 2012, habe er das versäumt. So wie er das sagt, ist das etwas, dass ihn immer noch beschäftigt. Christian, ein ähnlich eher introvertierter Typ wie Steve Guerdat, will diesen Ratschlag gerne annehmen. Zeit dafür hat er aber erst mal nicht. Als Olympiasieger ist er eine Person der Zeitgeschichte, wenn man so will ein öffentliches Gut, das nun von Termin zu Termin durchgereicht wird.
Erster Treffpunkt gestern Abend, das deutsche Haus. Wieder Medal Walk. Leider ohne mich, weil ich im Hotel noch Texte schreiben musste für die nächste Ausgabe des St.GEORG, die heute schon in Druck geht.
*
Wenn ein solches Pressezentrum sich dann lehrt, und es allmählich leiser wird, dann wundert man sich, wie schnell 14 Tage vorbeigehen können. In einer Ecke feiert sich das Presseteam, das uns toll unterstützt hat. Und die internationalen Wortfetzen, die drei Stunden nach der Medaillenzeremonie zu vernehmen sind, haben dann immer häufiger mit Abschied zu tun. „See you soon“, „au revoir“, „arrivederci“. Dazu noch viele andere Sprachen, die ich nicht kenne.
*
Es war ein Kurs zu springen, wie ihn wohl noch niemand zu bewältigen hatte, so der allgemeine Tenor der 30, die sich im Stadion versuchten. Und die, die bald merkten, dass sie dieser Anforderung gestern nicht ganz wachsen waren, die verzichteten. Das hat mir imponiert, beispielsweise Takahashi Haase, der ja im Norden Deutschlands zu Hause ist. Der Japaner hat lange in Elmshorn und Umgebung gelebt und ist jetzt in Niedersachsen südlich der Elbe zu Hause. Als er, der überraschend ins Finale vorgedrungen war, merkte, dass diese Anforderung einfach eine Nummer zu groß war, parierte er durch, ersparte seinem Pferd, den gesamten Parcours zu springen. Das Publikum verstand und applaudierte. Andere folgten seinem Beispiel. Nicht nur eine schöne Geste, sondern ein Zeichen, dass es im Reitsport doch vielleicht ein Umdenken gibt, beziehungsweise, die Akteure sich zunehmend ihrer Rolle und Außenwirkung bewusst sind. Wenn Olympia dieses Bewusstsein noch verstärkt hätte, dann wäre das gut.
*
Es ist kein Grund, melancholisch zu werden. Aber so ein ganz klein bisschen Wehmut ist schon dabei, wenn man das letzte Mal das Laptop herunterfährt. Das letzte Mal alles im Rucksack verstaut. Das letzte Mal nach den Bananen schaut, nur um festzustellen, heute sind sie gut gekühlt und frisch. Und wenn man dann ein Zelt verlässt, dass zwar nicht die zweite Heimat, aber zumindest der Arbeitsplatz und das über gefühlte 12 Stunden pro Tag Minimum war, wissend, dass dieses Zelt ziemlich bald abgebaut wird. Und das dann dort, wo wir diese herrlichen Spiele von Paris erleben durften, im Schlosspark von Versailles, wieder Hase und Igel sich gute Nacht sagen.
Zum Abschluss noch dies: Vielen herzlichen Dank für die zahlreichen netten Rückmeldungen, dass Ihnen und Euch dieser Newsletter gefallen hat. Ob im Gelände, im Pressezentrum, in den Sozialen Medien oder in der Entourage von Goldmedaillen – solch ein Feedback macht Spaß, weil man dann weiß, warum man den inneren Schweinehund ein ums andere Mal überwindet und sich noch spät, oder ganz früh morgens an die Tastatur setzt.
Merci beaucoup!
Au revoir, et merci Versailles!
Jan Tönjes, Chefredakteur St.GEORG