Liebe/r Leser/in, wo es so viele Gewinner gibt (SPD, Grüne und FDP), lohnt ein Blick auf den Verlierer, also die Union. Gestern noch im Mittelpunkt des Interesses, heute schon im medialen Abseits – mit diesem Adrenalin-Entzug müssen CDU und CSU jetzt erst einmal zurechtkommen. Denn: Der Ampel-Zug mit Olaf Scholz als Lokführer setzt sich in Bewegung – ob er das Ziel Kanzleramt erreicht oder auf offener Strecke stehen bleibt, ist offen.
Deshalb sollte sich die Union in den kommenden Wochen am Motto englischer Pfadfinder orientieren: „Be prepared!“ Gemeint ist: Vorbereitet sein für den Augenblick, in dem FDP-Chef Christian Lindner und/oder Robert Habeck anrufen, weil sich die rot-grün-gelben Verhandlungen vielleicht doch hoffnungslos festgefahren haben. Bis dahin aber muss vor allem die CDU Verhandlungs- und Regierungsfähigkeit herstellen. Schließlich sollte bei Lindner und Habeck kein Zweifel bestehen, wen sie im Fall des Falles anrufen können.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Ampel an ihren politischen Gegensätzen scheitert, ist zwar nicht sehr hoch und die Rolle der Union daher nicht sehr attraktiv. Doch sie ist in der jetzigen Lage ungemein wichtig, denn es kann die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie angesichts der völlig veränderten Parteienlandschaft davon abhängen. Das sollten alle in der Union beachten, die jetzt schon so emsig für die Zeit ohne Armin Laschet und vor allem mit sich selbst planen.
Markus Söder hatte ja schon vor einer Woche weitsichtig vorgeschlagen, dass zunächst die Ampel verhandelt werden solle.
Jamaika hatte nach seiner Logik von Anfang an nur eine Chance für den Fall des Scheiterns von Rot-Grün-Gelb, was für den Franken gleichzusetzen ist mit dem Scheitern von Olaf Scholz.
Söder hat damit Jamaika – anders als vielfach berichtet – keineswegs „beerdigt“. Er will aber verhindern, zum billigen Schreckgespenst von Grünen und Gelben gegenüber dem roten Olaf zu werden nach dem Motto: Dann rufen wir eben Armin Laschet an …
Leider hat der CDU-Chef das nicht ganz verstanden und sich bei Grünen und Liberalen mit unveränderter Gesprächsbereitschaft angebiedert – unter souveräner Missachtung von Aspekten wie Selbstachtung und Professionalität. Geschickt taktiert hat allerdings Christian Lindner. Listig wies er der Union die Verantwortung zu, die Grünen von Jamaika zu überzeugen – was erwartungsgemäß nicht gelang. Und zur Sicherheit überließ er dann noch den Grünen den Vortritt bei der Ankündigung rot-grün-gelber Sondierungsgespräche. Der Liberale weiß zu genau, wie unbeliebt die Ampel bei
der FDP-Wählerschaft ist. Da macht es sich gut, wenn er darüber nur deshalb verhandelt, weil die Gegebenheiten derzeit keine andere Lösung zulassen.
Ins Scheinwerferlicht tritt mit dieser Woche Olaf Scholz. Die Tatsache, dass er es nach seinem Wahlerfolg geschafft hat, sich vollständig zurückzunehmen, medial beinahe unsichtbar zu werden, weist ihn als Meister des politischen Fachs aus. Man würde das nicht vielen in der ersten Reihe der Politik zutrauen. Doch jetzt muss Scholz aus der Deckung der wolkig-harmonischen Floskeln treten und aus drei höchst gegensätzlichen Wahlprogrammen konkrete Regierungspolitik schmieden. Jetzt geht es um Konfliktlösungen. Da bleibt die Selfie-Seligkeit der vergangenen Tage schnell auf der Strecke. In der Küche der Macht lässt die Hitze manches und manchen verdampfen, Sympathievorsprünge ebenso wie Mehrheiten.
Um die Küche der Zukunft geht es in unserer Titelgeschichte. Landwirtschaft, Industrie und Handel stehen vor einer großen Herausforderung: Wie künftig elf Milliarden Erdbewohner ernähren, ohne den Klimawandel weiter anzuheizen? Denn die Art, wie wir unser Essen produzieren, bedroht unsere Gesundheit und unseren Planeten. Unsere Wissens-Redakteurin Sonja Fröhlich sprach für ihren Report, den Sie ab Seite 62 lesen, mit Wissenschaftlern, Politikern, Landwirten und Küchenchefs. Sie war in Münster, wo sich ein kleiner Biobauer erfolgreich gegen die Massenindustrie behauptet. Sie hat in Labore geguckt, wo aus Quallen und Algen die Nahrung der Zukunft entstehen soll, und berichtet über neue Ideen im Handel. Ich hoffe, sowohl die Geschichte als auch das Heft insgesamt trifft Ihren Geschmack! |