Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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23. Juni 2024
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
man kann Schuhe polieren. Kann man auch das Grundgesetz polieren? Ist es eine Politur, wenn man eine Volksabstimmung über das Grundgesetz veranstaltet? Eine solche Abstimmung hat es bisher nie gegeben – nicht vor 75 Jahren, als das Grundgesetz in Kraft gesetzt wurde; auch nicht vor bald 35 Jahren, als Deutschland wiedervereinigt wurde. Ein paar Politiker haben nun vorgeschlagen, die Volksabstimmung über das Grundgesetz nachzuholen. Dieser Vorschlag verbindet das Grundgesetzjubiläum und das bevorstehende Jubiläum der Einheit miteinander. Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow von den Linken und der ostdeutsche SPD-Politiker Markus Meckel propagieren diese Idee; Petra Pau, die linke Bundestagsvizepräsidentin, hat das auch sehr befürwortet. Ein solcher Schritt könne, so heißt es, eine „emotionale Fremdheit“ in Ostdeutschland gegenüber dem Grundgesetz überwinden helfen.

Die letzte Erinnerung an den anderen Weg zur Einheit

Der Rechtsgelehrte und frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm lehnt das ab: Er hält es „für keineswegs sicher“, dass die Bestätigung per Volksabstimmung „dem Grundgesetz eine höhere Anerkennung im Osten verschaffen würde“. Und es würden sich, meint er, wohl viele fragen, „wozu der Aufwand gut sein soll“, wenn es lediglich um eine Namensänderung von „Grundgesetz“ zu „Verfassung“ geht – sich aber darin substanziell gar nichts ändern soll. Das ist gewiss richtig. Aber die Idee einer Volksabstimmung ist die letzte Erinnerung an den Versuch, einen ganz anderen Weg zur deutschen Einheit zu gehen, als den, der vor bald 35 Jahren gegangen wurde. Es war damals der Weg des Beitritts: Die Bundesrepublik blieb Bundesrepublik, die DDR wurde an sie angeschlossen und verschwand spurlos. Das war der Weg nach Artikel 23 des Grundgesetzes.

Die Gegner protestierten damals unter dem Motto „Kein Anschluss unter dieser Nummer“. „So können wir nicht über die Geschichte der letzten 45 Jahre hinweggehen“, meinten sie. Nur die Volksabstimmung könne einer späteren „Legendenbildung“ vorbeugen. Sie plädierten daher für die deutsche Einheit nach Maßgabe des Artikel 146 des Grundgesetzes, in dem es hieß: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Es hätte also eine neue Verfassung auf der Basis des Grundgesetzes geschrieben und darüber abgestimmt werden sollen.

Das Grundgesetz wäre nicht völlig neu verfasst, sondern mit den Erfahrungen der Menschen in der DDR angereichert, ergänzt und geändert werden. Mich faszinierte damals diese Idee. Warum? Die Delegierten aus der DDR hätten bei einer Verfassungsreform etwas an den Verhandlungstisch gebracht, das der Bundesrepublik und dem Grundgesetz immer gefehlt hatte: die demokratische Revolution. Die Bundesrepublik war 1948/49 aus der Retorte entstanden, das Grundgesetz unter der Anleitung der Alliierten. Ein neu verfasstes Deutschland hätte diesen Makel ausgleichen, es hätte die rechtsstaatliche Tradition der BRD verknüpfen können mit der demokratischen Autorität des revolutionären Wandels in der DDR. Es sei, so schrieb ich damals in einem Leitartikel, „ein kapitaler Fehler, auf eine Legitimation von solcher Güte zu verzichten“.

Es war wohl dieser Leitartikel, der mir, es war im Frühjahr 1990, die erste Einladung ins Fernsehen einbrachte, in den sonntäglichen ARD-Presseclub, dessen Thema die Deutsche Einheit und der richtige Weg dahin war. Ich war schrecklich nervös und beim Flug nach Köln war mir so blümerant, dass ich nichts dagegen gehabt hätte, wenn das Flugzeug wieder umgekehrt wäre. Damals war es noch üblich, dass nicht nur Journalisten, sondern auch Politiker in den Presseclub eingeladen wurden. Mein Gegenüber war also Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der die Beitrittslösung nach Artikel 23 vertrat und dann wenig später auch die Verhandlungen für den Einigungsvertrag führte. Ich sollte und wollte für eine gesamtdeutsche Verfassung, für den Weg nach Artikel 146 werben. Aber irgendwie kam ich, unerfahren wie ich war, nicht zum Zuge. Die Diskussion fand, gefühlt die halbe Sendung lang, ohne mich statt. Und ich sah im Geist meinen Vater, der vor dem Fernseher auf meinen Einsatz wartete; und ich sah schon die feixenden Gesichter meiner Kollegen im Büro am nächsten Tag. Als Schäuble wieder sagte, dass einzig und allein der Beitritt nach Artikel 23 ein praktikabler Weg zur Einheit sei, pumpte ich mich endlich auf und fiel ihm, sehr laut, so als gäbe es keine Mikrofone, ins Wort: „Herr Minister, Sie sind kleinmütig!“ Das war mein erster Satz im Fernsehen. Ob die Begründung dazu dann überzeugend war? Der Kollege Martin Süskind vom Bonner SZ-Büro bemerkte am nächsten Tag am Telefon: „Keine Angst vor Fürstenthronen“. Ich war mir nicht sicher, ob das eine schon anerkennende Beschreibung meines Auftritts oder ein Rat für meine TV-Zukunft war. Anfang Juli 1990 begann dann das größte bürokratische Experiment der Weltgeschichte – der Vollzug der Deutschen Einheit, genannt Beitritt.

Es lag, wie der Historiker Peter Bender schrieb, „wenig Weisheit in der Art, wie die Deutschen vereinigt wurden“. Es wäre schön, wenn man diese Weisheit nachholen könnte; aber das geht nicht mehr. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
SZPlus Prantls Blick
Die DDR verschwand spurlos. Wirklich?
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Ich wünsche Ihnen einen guten Sommeranfang

Ihr
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Vorbild Faultier
Am Donnerstag um 22:51 Uhr hat der Sommer angefangen. Die Tage sind am längsten, die Nächte am kürzesten. Die ersten Bundesländer sind in die großen Ferien gestartet. Grund genug ans Faultier zu erinnern und von ihm zu lernen: „Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Das Faultier schläft. Ssssssst. Es hängt mit seinen Krallen umgekehrt im Ast. Wie eine haarige Hängematte. Wenn der Urwald wieder schlafen geht, duselt das Faultier immer noch vor sich hin. Ab und zu öffnet es die Augen. Mit langem Arm greift es ein Blatt und noch eines und kaut, kaut, kaut. Bis es wieder einschzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzz.“

Nehmen Sie das bezaubernde und poetische Tierbüchlein von Bibi Dumon Tak mit in die Ferien. Es ist eines der Kinder- und Jugendbücher, dem es nichts ausmacht, wenn auch Erwachsene es lesen. Zum Problem könnte das höchstens werden, wenn Sie es nicht mehr aus der Hand legen wollen. Und das kann gut passieren.  Die Niederländerin Bibi Dumon Tak erzählt witzig, liebevoll und kenntnisreich von seltenen und seltsamen Kreaturen. Wer hat schon mal was vom Laubenvogel gehört, der seiner Geliebten die schönsten Gartenlauben aus Blüten und Gedöns baut? Oder von der Jesus-Christus-Echse, die auf zwei Beinen übers Wasser laufen kann? Kaum zu glauben? Aber wahr! Wer würde auf die Idee kommen, den Mistkäfer ein Wunderlakritzbonbon zu nennen? Es ist allerdings eines, das man besser nicht probieren sollte!

„Kuckuck, Krake, Kakerlake“ heißt das kleine Buch, das auch im vollsten Koffer noch Platz findet. Es wurde schon 2013 publiziert, ist aber anhaltend vergnüglich und mittlerweile in der achten Auflage erschienen.  Meine Empfehlung zur Buchempfehlung: Nehmen Sie sich jeden Tag ein Tierchen und sein Pläsierchen vor. Vierzig sind es an der Zahl, so dass Ihnen an jedem Sommerferientag schon mal eine Freude gewiss ist. Und sollte das Wetter kalt und ungemütlich sein, dann widmen Sie sich dem Wilden Yak, der verrückt ist nach dem ewigen Teppich aus Schnee und Eis, und Sie werden sich unmittelbar behaglich fühlen.

Bibi Dumon Tak: Kuckuck, Krake, Kakerlake. Das etwas andere Tierbuch mit Zeichnungen von Fleur von der Weel ist im Verlag Gulliver von Beltz & Gelberg erschienen, es hat 78 Seiten und kostet 6,95 Euro.
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Der Krieg in Papierform
Vergangenheit ist nicht einfach das, was von ihr übrig bleibt. Vergangenheit ist eine kulturelle Schöpfung – eine Schöpfung der Gegenwart für die Zukunft. Der Raum für diesen Schöpfungsakt sind Archive; und die Hauptpersonen dieses Schöpfungsakts sind Archivarinnen und Archivare. Sie formen aus Bergen von geschriebenen, gedruckten und gespeicherten Materialien einen Kosmos der Ordnung. Wie das geschieht – damit beschäftigt sich die Kollegin Renate Meinhof. Sie war im Bundesarchiv, wo die Personalunterlagen von mehr als achtzehn Millionen Soldaten der ehemaligen Deutschen Wehrmacht und der SS liegen. Zu denen, die diese Unterlagen ordnen, gehören Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Meinhof hat mit drei ukrainischen Archivarinnen gesprochen, die vor zwei Jahren mit ihrer Arbeit im Bundesarchiv begonnen haben – sie haben Deutsch und in Schulungen gelernt, alte Handschriften zu entziffern, auch Sütterlinschrift. Lesen Sie diesen sensiblen und sachkundigen Text.
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