Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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3. März 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
das mit der Orientierung ist ja so eine Sache. Wenn man im 20. Jahrhundert unterwegs war, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto, fand man sich zurecht, weil man sich an den Weg erinnerte, weil man eine Karte dabeihatte oder weil man jemanden fragte. Oder man fand sich nicht zurecht.

Ich war vor einiger Zeit, jedoch deutlich im 21. Jahrhundert, mal in einer mir fremden Stadt – Städte sind mir eigentlich alle fremd – und lief vom Bahnhof in eine Richtung, die ich für jene hielt, in die ich zu meinem Ziel laufen sollte. Sie war es aber offenbar nicht. Ich fragte also einen mittelalten Menschen, wo es denn zur Simeonstraße gehe. Einen Mann, Männer sind meistens unfreundlicher als Frauen. Manchmal suche ich nach Unfreundlichkeit, um meine Vorurteile zu bestätigen. Der Mann blickte mich mit mittelaltem Gesichtsausdruck an und sagte: „Weiß nicht. Haben Sie denn kein Handy?“

Doch, doch, hab’ ich. Ich mag nur nicht mit dem Blick aufs Telefon herumlaufen. In der Stadt begegnet man vielen Menschen, die dauernd mit dem Blick aufs Telefon herumlaufen. Die wenigsten gucken dabei auf eine Karte, sondern auf das große Sonstewas, wie der vor fast 15 Jahren gestorbene SZ-Aphoristiker Claus Heinrich Meyer gelegentlich jenen unerforschten, unerforschbaren Raum nannte, in dem alles Sonderbare, alles Zusammengeballte, alles zum Grunzen Animierende, alles Rätselhafte wohnt. Das große Sonstewas. Tiktok, Insta, Kilkaya, Facebook, Fox News und die Konferenzmail wohnen oder kommen ganz sicher aus dem großen Sonstewas.

Manchmal, wenn ich in der Stadt Dinge zu erledigen habe, denke ich an Meeresküsten. Dort nämlich, zum Beispiel auf dem Darß oder auf El Hierro, gibt es diese schiefen Bäume, deren Wuchs dauerhafte Winde zurechtgeblasen haben. Man nennt sie auch Windflüchter. Die Leute, die immer auf ihr Mobiltelefon blicken, während sie gehen, sind auch leicht schief. Sie halten das Gerät in einer Hand, der obere Rücken ist etwas nach vorne gebeugt, der Hals auch, das Gesicht halb nach unten gerichtet. Ich glaube, wenn das jemand drei, vier Jahre lang konsequent macht, wird er oder sie insgesamt auch schief werden. Vielleicht nicht so wie der Wacholder auf den Kanaren. Aber doch merkbar schief. Und in ein, zwei Jahrzehnten wird das große Sonstewas aus vielen Stadtbewohnern Handyschieflinge gemacht haben.

Das Navi im Auto ist ein Sonderfall des digitalen Orientierungsdieners. Wahrscheinlich liegt es an meinem altmodischen Rollenverständnis, aber ich glaube, das (Neutrum) Navi in meinem Auto ist trotz seiner offiziellen Geschlechtszuschreibung männlich. Jedenfalls sage ich relativ häufig, wenn mir das Navi empfiehlt, jetzt rechts und dann in 200 Metern links abzubiegen: „Was will er denn? Wo will er denn hin?“ „Er“ ist das Gerät. Weil ich Terry Pratchett für einen großen Schriftsteller halte, glaube ich, dass hinter dem Armaturenbrett, das kein Armaturenbrett mehr ist, ein kleiner Mann sitzen könnte, der die Wege auf der Computerkarte blitzschnell aufmalt. (Sollten Sie Pratchett nicht kennen, kaufen Sie sich den ersten Band des großen Scheibenweltzyklus mit dem deutschen Titel „Die Farben der Magie“. Wenn er Ihnen nicht gefällt, können Sie immer noch eine Karriere als Handyschiefling anstreben.)

Das Navi also ist vorwiegend männlich, jedenfalls in meiner Vorstellung. Dass er oder es auch mit einer weiblichen Stimme sprechen kann, ist eine Folge der allgemeinen Existenzverunsicherung im digitalen Zeitalter. Kein Computer weiß, ob sie möglicherweise ein Comp*Uter ist. Andererseits sollte – nein: muss – man die Stimme des Navi sowieso abschalten. Lebte Theodor Adorno noch, würde er, vielleicht gemeinsam mit Jürgen Habermas, einen Aufsatz im SZ-Feuilleton schreiben, warum es unbedingt nötig ist, Dinge nicht zu sich sprechen zu lassen. Im Adorno’schen Sinne, glaube ich, können sich Dinge nur eines Jargons der Eigentlichkeit bedienen, etwa so wie Adorno in der Nachkriegszeit dem deutschen „Volk von Mittelständlern“ vorwarf, es bestätige sich selbst durch einen Jargon der Eigentlichkeit, dessen Wurzeln zum Nationalsozialismus reichten und dessen philosophische Begründung bei Adornos Leib- und Magenfeind Heidegger daheim sei.

Keine Sorge, ich will mich (und Sie) nicht tiefer in Adorno und Heidegger verstricken. Mir fiel nur auf, dass der Schauspieler Christoph Waltz, offenbar ein kluger und ironischer Mann, im Interview mit dem, schon wieder, SZ-Feuilleton, von „uneigentlichem Sprechen“ und anderen „uneigentlichen“ Dingen beim Film redete. Das ist interessant, weil Waltz, anders als Adorno, das „Eigentliche“ als das Gute, zumindest als das Bessere gegenüber dem Uneigentlichen wahrnimmt. Vielleicht habe ich Waltz ja auch missverstanden, und er hat sich gar nicht auf Adorno bezogen, den man leicht missverstehen kann. Waltz also mag keine uneigentlichen Filme. Wenn man aber einen eigentlichen Film macht, ist der, gemessen an Adornos Heidegger-Verständnis, uneigentlich. Man sollte Waltz mal fragen, ob er „uneigentliche“ Filme im Sinne von Heidegger oder von Adorno versteht.

Jedenfalls muss man sehr aufpassen, um nicht, mobiltelefonmäßig verblasen, zum Windflüchtling zu werden. Und schließlich: Sie sollten in diesem Jahr entweder Pratchetts „Farben der Magie“ oder Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ (edition suhrkamp Nr. 91, blauer Einband) lesen. Dann verstehen Sie besser, was Ihr Comp*Uter mit Ihnen macht.
Kurt Kister
Redakteur
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