Chefredakteur Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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Mittwoch, 29. April 2020
Guten Tag,

aus bekannten Gründen bin ich, wie viele andere auch, zurzeit mehr daheim als sonst. Ich habe mir übrigens auch in diesem Brief vorgenommen, das C-Wort zu umgehen und auch nicht „in diesen Zeiten“ zu schreiben. Zwar bin ich überhaupt nicht abergläubisch, aber es könnte ja sein, dass, wenn immer mehr Menschen das C-Wort nicht mehr aussprächen, das Ding selbst, also das Virus, an Kraft verlöre und dahinschwände (Der Konjunktiv ist etwas Schönes).

In einer dieser amerikanischen Serien (meine politisch korrekten Bekannten würden jetzt schreiben: US-amerikanisch), die American Gods heißt (nicht etwa US-American Gods â€¦) sind etliche Altwelt-Götter, unter ihnen Odin, in die USA emigriert und fristen dort ein mehr oder weniger klägliches Leben. Das liegt unter anderem daran, dass kaum jemand mehr an sie glaubt, ihnen opfert und ihre Namen ausspricht. Wenn man sie nicht mehr wahrnimmt, werden sie schwach. Sogar Tschernebog, ein böser Gott der Westslawen, ist in der Serie ein kettenrauchender Trailerpark-Asi, weil die Menschen ihn als Gott vergessen haben.

Vergessen zu werden, ist selbst für einen Gott misslich, weil ja – Vorsicht, es wird wieder philosophisch – das Sein Gottes, falls er überhaupt „ist“, immer in Relation zu den Menschen steht. Wenn der Kardinal Ratzinger nicht so alt und nicht so weit weg in Rom wäre, würde ich ihn gerne mal fragen, ob er glaubt, dass Gott ohne Menschen derselbe wäre, der er vielleicht ist, sollte er überhaupt im spirituellen oder gar physischen Sinne „sein“. Wenn man jedenfalls das Sein des Virus, gegen das Tschernebog vermutlich ein ganz netter Kerl ist, dadurch beeinflussen könnte, dass man es vergisst, wäre das großartig. Kann man aber nicht.

Und dennoch ist das Vergessen, Nichtaussprechen oder Abwenden, um Unangenehmem zu entgehen, unter Menschen und Tieren beliebt. Ich bin in Florida mal einem Gürteltier begegnet, das insgesamt eher nicht zu den deutlich intelligenten Lebewesen zählt. Wäre das Gürteltier als solches ein Mensch, wäre es vermutlich ein Reichsbürger oder würde wenigstens Xavier Naidoo gut finden. Das floridianische Gürteltier jedenfalls wurde meiner ansichtig und nahm mich offenbar als Gefahr wahr. Flucht erschien ihm wohl nicht als realistische Option; schnelle Bewegungen sind nicht so sehr die Sache des Gürteltiers. Also machte es zunächst Anstalten, sich einzurollen. Dann aber beschloss es offenbar, die Sache gründlicher anzugehen: Es entfernte mich einfach aus seiner Welt. Das tat es, indem es sich umdrehte, die Augen schloss, und regungslos so sitzen blieb. Es sah mich nicht mehr, also war ich nicht mehr da.

Es wäre oft nicht schlecht, wenn diese Methode auch im Leben des Menschen funktionieren könnte. Ein Geschäftsführer, der Kurzarbeit entgegen der Lebenserfahrung einführen will? Umdrehen, Augen zu, weg ist er. Ein Außenminister, der dauernd davon schwafelt, man könne in diesem Sommer nicht in den Urlaub fahren? Eine Drehung, die Lider runter, fort ist Heiko. (Bei diesem Außenminister kann es allerdings auch sein, dass er eines Tages einfach so verschwindet, und man muss sich nicht mal vorher umdrehen.)

Ja, Sie haben recht, das funktioniert nicht. Wenn man selbst etwas nicht mehr sieht, heißt das noch lange nicht, dass es nicht mehr da ist. Im Gegenteil, manchmal ist das, was man sich wegwünscht, noch penetranter, wenn man es im Rücken hat. Dann macht es, die deutsche Sprache ist da präzise, etwas hinter meinem Rücken. Man wartet, dreht sich um und hofft, dass da niemand mehr steht. Aber nein, plötzlich sind es fünf Geschäftsführer oder Heiko Maas und der ganze SPD-Vorstand. Man sollte also nicht das Gürteltier machen, sondern der Unbill ins Gesicht blicken, so sie eines hat.

Beim Virustier tun wir das gerade nicht mehr. Wir blicken ihm nicht ins Gesicht, sondern verhüllen stattdessen unsere Antlitze. Von der Küste bis zu den Alpen ist jetzt Vermummung vorgeschrieben. Vor ein paar Wochen hieß es noch, das bringe nichts, aber vor ein paar Wochen dachte wahrscheinlich auch irgendwo auf der Welt ein Gürteltier nicht daran, dass es einem Menschen begegnen könne. Man muss flexibel sein, als Gürteltier und als Mensch. (Das wäre auch so eine Frage an den alten Kardinal im vatikanischen Kloster: Ist Gott eigentlich flexibel?)

Wie dem auch sei, ein Gutes hat das Arbeiten im Heimatbüro doch: Man hört die Vögel. Oder, genauer gesagt: Ich höre die Vögel, auch weil ich nicht in der Stadt wohne, sondern aus der grünen Peripherie in die Stadt pendle, wenn ich denn pendle. Ich habe den Eindruck, in diesem Jahr gibt es mehr Vögel als im vergangenen Jahr. Letzte Woche bei einer dieser vielen grässlichen Menschzusammenschaltungen über den Computer, waren die Vögel im Hintergrund eines selbst gar nicht leisen Kollegen so laut, dass man deren Stimmen besser verstand als dessen Stimme. Und wenn ich an einem der vielen Gürteltier-Heimatbüro-Tage kurz auf den Balkon gehe, zwitschert, trillert und gurrt es nahezu gewaltig. Mutmaßlich sind die Vögel gerade in der Brunft (sagt man das so bei Vögeln?), so dass sie auch noch erheblichen amourösen Lärm machen. Jedenfalls drehe ich mich nicht um und schließe die Augen, wenn ich einen Star, einen Zaunkönig, eine Meise oder einen Spatz sehe.

Wenn ich diesen Brief fertiggeschrieben habe, gehe ich noch einkaufen. Ich binde mir dann einen Maulnasenkorb vor, meine Brille beschlägt, und der Mann an der Fleischtheke versteht mich schlecht. Ich weiß, das dient alles einem höheren Zweck, und ich bilde mir auch auf keinen Fall ein, dass ich diesen Sommer in die Toskana fahren kann. Es wäre schon verantwortungslos, auch nur daran zu denken. Ich werde stattdessen Kafka wiederlesen. Sie kennen ja den ersten Satz aus der „Verwandlung“: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Mir würde es schon reichen, würde ich im Mai und Juni zu einem Gürteltier. Xavier Naidoo würde ich trotzdem nicht hören.

Kurt Kister
Chefredakteur
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