Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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17. November 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
die größte Menschheitsfrage lautet: Wer bin ich? Zu ihrer Beantwortung sind Religionen gegründet worden („ein Geschöpf Gottes“), schwarze Rollkragenpullover wurden angezogen („ein Nichts ohne Sinn“), Länder wurden überfallen („am deutschen Wesen soll die Welt genesen“). Manche lesen sich mit der Menschheitsfrage im Hinterkopf durch die philosophische Bibliothek, kommen aber eher zu Erkenntnissen über die Philosophen – Heidegger ist unverständlich, Augustinus ist zeitgebunden, Nietzsche hätte besser keine Schwester gehabt –, als dass sie auch nur einer Antwort auf die Frage näher kämen.

Insofern war ich höchst interessiert, als ich neulich in der FAZ ein Interview mit der Schufa-Chefin Tanja Birkholz las. Sie werden vielleicht denken: Was soll das denn jetzt wieder, von Nietzsche zur Schufa? Na ja, die Schufa, also die Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung, ist, so wie der mutmaßlich ineffizientere Verfassungsschutz, eine dieser Firmen, die sehr viele Informationen über sehr viele Menschen sammeln. Wenn man mithilfe irgendeiner der vielen Möglichkeiten der Nicht-Barzahlung etwas kaufen möchte, fragt der Verkäufer bei der Schufa nach, ob sie über die Käuferin Nachteiliges weiß. Nachteiliges bedeutet hier zwar nur etwas, das die finanzielle Bonität einschränkt. Doch schon das Wort „Bonität“ mit seinem Wortstamm bonum, das Gute, zeigt, dass es eben nicht nur um Kohle, sondern auch um Moral geht. Wer Geld hat, ist mehr als einer, der keins hat. Wenn man jemandem Geld geliehen hat, und er hat es zurückgezahlt, ist er gut, bonum. Wenn nicht, ist er böse, keine Bonität.

Die Schufa also ist in gewisser Weise eine moralische Anstalt. Sie hat, anders als das Theater, das sich selbst auch für eine moralische Anstalt hält, allerdings auch Sanktionsmöglichkeiten. Das Theater kann bei extremer Zeigefingerschüttelei oder mutwilliger Subventionsverbrennung vom Kunden sanktioniert werden: Man geht halt nicht mehr hin. Dann wird das Theater zu einer einsamen moralischen Anstalt. Bei der Schufa geht das nicht. Wenn eine Kundin sich der Schufa verweigern will, teilt dies die Schufa dem Verkäufer mit, und die Kundin kann ihren Pelletofen nicht finanzieren. Nicht gut, keine Bonität.

Die Schufa hat sehr lange keine Erklärungen darüber abgegeben, wie sie arbeitet, welche Kriterien sie anlegt, warum jemand ungut im finanziellen und damit auch im kapitalistisch-moralischen Sinne ist. Seit einiger Zeit hat man auch bei der Schufa von Transparenz gehört, die man jetzt pflegen möchte, wenn auch eher einseitig durchsichtig. Sogar der BND betreibt neuerdings eine Art Öffentlichkeitsarbeit.

Frau Birkholz also hat in dem Interview unter anderem erläutert, warum die Schufa gerne so viele Daten haben möchte. Früher, sagt die Chefin, habe man im Tante-Emma-Laden eingekauft. Und da sei man gut bekannt gewesen, die Verkäuferin habe gewusst, auch wenn man mal anschreiben ließe, habe man das dann wieder bezahlt. Ich habe bei der Lektüre dieser Sätze an die „Feuerzangenbowle“ denken müssen. Das war, zur Erläuterung für unsere jüngeren Leser unter 63, ein Schwarz-Weiß-Film mit Heinz Rühmann, in dem es einen Lehrer gibt, der, wenn er etwas erklären will, den unsterblichen Satz – können Sätze überhaupt sterben? – sagt: „Da stelle mer ons mal janz domm...“

Also: Was damals die Käuferin im Kramladen war, ist heute die Käuferin auf der Website. Sagt Frau Birkholz. Im Netz aber, da stelle mer ons jetzt mal janz domm, kennt ja niemand die Käuferin. Also muss die Schufa möglichst viele relevante Daten haben, damit die Käuferin im Tante-Emma-Netz anschreiben lassen kann. Sagt Frau Birkholz. Und mit dem „gläsernen Menschen“ habe das gar nichts zu tun. Es gehe nur um bestimmte Daten. Und vor allem darum, dass die eine was einkaufen und die andere was verkaufen wolle. Es ist also eigentlich gut, wenn man der Schufa und anderen datenhungrigen Organisationen seine Daten gibt. Das macht das Leben leichter und die Bonität besser. Wäre ich Bert Brecht, würde ich jetzt die Ballade von der Bonität schreiben. Oder mir von einer Freundin schreiben lassen.

Frau Birkholz hat mir außerdem einen Pfad zur allmählichen Beantwortung der Menschheitsfrage gezeigt. Vielleicht bin ich ja gar nicht das aus Materie bestehende Wesen, das eine Seele – was ist das? – hat und Gefühle verspürt? Und möglicherweise bin ich auch nicht, nihilistisch gesehen, nur die zufällige Wasser-Eiweiße-Mineralstoffe-und-Kohlenstoff-Zusammenballung, die wegen gewisser chemisch-elektrischer Prozesse im Gehirn sich für eine Person, einen Menschen hält? Möglicherweise liegt die Bestimmung der Menschheit darin, sich in der schönen neuen Welt zu Datenclustern zu entwickeln, für die es zwar eine je unterschiedliche analoge Existenz gibt, die aber immer unwichtiger wird.

Je mehr Menschen dazu bereit sind, ihre analoge Existenz aufzugeben und sich auf ihr Dasein – im heideggerschen Sinne wäre das nicht einmal ein Da-Sein – zu konzentrieren, desto einfacher würde vieles. Man würde nicht mehr mit dem Auto die Umwelt verpesten, den Klimawandel gäbe es im Netz nicht, man müsste nicht zum Zahnarzt etc.

Ich glaube, Frau Birkholz ist eine große, wenn auch verborgene Philosophin. Und wahrscheinlich sollte man der Schufa einfach eine Datenabbuchungserlaubnis erteilen.
Kurt Kister
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