Daniel Pipes

Die verborgene Geschichte des Konservatismus

von Daniel Pipes
Philadelphia Inquirer
31. Juli 2018

http://de.danielpipes.org/18515/die-verborgene-geschichte-des-konservatismus

Englischer Originaltext: Conservatism's Hidden History
Übersetzung: H. Eiteneier

Was ist Konservatismus?

Bevor ich einen Artikel von Ofir Haivry und Yoram Hazony in einer aktuellen Ausgabe von American Affairs las, hätte ich geantwortet: individuelle Freiheit, ein schlanker Staat und eine robuste Außenpolitik. Ihr Artikel lehrte mich ein völlig anderes und viel tieferes Verständnis.

Eine Titelseite von Fortescues "In Praise of the Laws of England" (ca. 1470)

Haivry und Hazony offenbaren klar und brillant eine wenig bekannte intellektuelle Geschichte des englischen Konservatismus, der ins 15. Jahrhundert und zu Sir John Fortescues "In Praise of the Laws of England"[i] (ca. 1470) zurückreicht, gefolgt von solch herausragenden Denkern wie John Selden , Jonathan Swift und Edmund Burke.

Sie plädierten für eine Einstellung, die Tradition respektiert, während diese intelligent an neue Umstände angepasst wird. Haivry und Hazony nennen dies historischen Empirismus. Konservative schätzen, was vorausgegangene Generationen erarbeitet haben – insbesondere die englische Verfassung und die hebräische Bibel. Sie sehen Englands einzigartige Entwicklung der Freiheit als glückliches Ergebnis solch einmaliger Durchbrüche wie der Magna Charta (1215) und des Petitionsrechts (1628).

Das zugehörige Wort der Konservativen lautet "Obacht": Schau auf Nation und Religion, um Leitung zu erhalten; stelle sicher, dass die Macht der Exekutive begrenzt ist und erhalte individuelle Freiheiten. Richter – respektiert die ursprüngliche Intention von Dokumenten. Politiker – wenn Ehe überall und immer den Bund von Mann und Frau bedeutet hat, seid sehr bedächtig darin das fundamental zu ändern. Regierungen – stellt sicher, das Zuwanderer sich der Gastgeberkultur anpassen.

Liberale sind im Gegensatz dazu Rationalisten, weil sie an die unbegrenzten Fähigkeiten jedes Einzelnen glauben die Dinge selbst herauszufinden. Tradition zählt kaum: "Statt aus der historischen Erfahrung der Nationen heraus zu debattieren, machen sie sich daran allgemeine Axiome zu setzen, von denen sie glauben, sie würden für alle Menschen gelten und von denen sie annehmen, sie würden von allen Menschen anerkannt, die sie mit ihren angeborenen rationalen Fähigkeiten untersuchen."

Eine Titelseite von Lockes "Two Treatises of Government" (1689)

Der Liberalismus ist zwei Jahrhunderte jünger als der Konservatismus und geht auf John Lockes Second Treatise of Government[ii] (1689) zurück; darin formulierte Locke angebliche Naturgesetze, von denen er unbekümmert annahm, sie würden für jeden Menschen gelten. Haivry und Hazony erklären: "Der Liberalismus ist eine politische Doktrin, die auf der Annahme gründet, dass die Vernunft prinzipiell für alle Individuen überall gleich und zugänglich ist; und das man nur die Vernunft befragen muss, um bei einer Regierungsform zu landen, die überall, für die gesamte Menschheit, die beste ist."

Hier besteht natürlich die Gefahr darin, dass individuelle Menschen einige seltsame und engstirnige Vorstellungen haben. Der Liberalismus setzt Ideen frei, die von der Besonnenheit der englischen Verfassung weit entfernt sind, angefangen mit der Französischen Revolution und aufhörend bei den Totalitarismen unserer Zeit. Verkündete universelle Gesetze können jede Sünde rechtfertigen, sobald man sie von angesammelter Weisheit und Erfahrung abkoppelt.

Konservative und Liberale haben im Vereinten Königreich 300 Jahre lang miteinander gerungen. Konservative können auf die Monarchie und das allgemeine Recht verweisen, die als ihre Leistungen immer noch bestehen; Liberale können auf unkontrollierte Zuwanderung und mindestens 85 tätige Scharia-Gerichte verweisen.

Es gibt eine ähnliche amerikanische Debatte. Zu den Konservativen gehören Alexander Hamilton, George Washington und John Adams; zu den Liberalen gehören Thomas Jefferson, Thomas Pain und Andrew Jackson. Jede Seite hat ihre Erfolge. Die Unabhängigkeitserklärung (1776) ist ein liberales Dokument, das verschiedene "Wahrheiten für selbstverständlich" hält, namentlich "dass alle Menschen gleich geschaffen [und] von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind". Die US-Verfassung (1787) erwähnt keine universellen Wahrheiten; stattdessen überträgt sie Schlüsselmerkmale der englischen Verfassung zur Verwendung in Amerika.

Ein liberales amerikanisches Plakat: "Zuwanderer sind ein Segen, keine Last"

Diese historischen Unterschiede dominieren weiterhin die alltäglichen Kämpfe im öffentlichen Leben Amerikas, wobei Liberale an universelle Prinzipien glauben und Konservative nationale Kultur feiern. So wollen Liberale Macht an die Vereinten Nationen abgeben, Konservative nicht. Liberale heißen begierig somalische Immigranten willkommen, Konservative hegen Zweifel bezüglich deren Assimilation. Liberale sind weniger religiös, Konservativer sind das stärker.

Die beiden Seiten sind in der amerikanischen Politik gleich stark vertreten, wobei die Macht sich regelmäßig von der einen zur anderen Seite verschiebt. Aber in Bildung und Werten herrscht der Liberalismus vor. In Schulen lehren zum Beispiel Liberale den Liberalismus und Konservative gibt es dort fast nicht. Diese liberale Hegemonie bedeutet, dass Konservative regelmäßig als "engstirnig" und daher moralisch minderwertig gegeißelt werden; so kam es, dass ein aktueller Artikel im Atlantic fragte: "Ist der amerikanische Konservatismus inhärent engstirnig?"

Das bedeutet auch, so schreibt mir Haivry: "Während Hunderte herausragender Universitäten und Institute sich der Untersuchung der liberalen Tradition verschrieben haben, sind keine dem Studium und der Entwicklung der Prinzipien des anglo-amerikanischen Konservatismus gewidmet. Allerdings versuchen einige Kollegen und ich diese große Tradition wiederherzustellen und wir suchen nach Unterstützung, um eine Institution aufzubauen, die sich diesem Ziel widmet." Möge ihr Projekt gedeihen.

Daniel Pipes (DanielPipes.org, @DanielPipes) ist Präsident des Middle East Forum
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Ergänzungen vom 31. Juli:

(1) Diese Unterscheidung geht so weit zu erklären, warum die weniger Gebildeten dazu tendieren konservativ zu sein und die Gebildeten dazu liberal zu sein; Erstere glauben von sich eher nicht, dass sie kompetent sind, die Dinge selbst zu durchdenken.

(2) Im College besuchte ich Robert Nozicks Philosophie-Kurs und las auf seine Anleitung hin Friedrich Hayeks Die Verfassung der Freiheit, die mich stark beeindruckte. Insbesondere war ich von Hayeks Aufsatz "Warum ich kein Konservativer bin" beeinflusst. Fast 50 Jahre lang ließ er mich annehmen, ich sein ein (klassischer) Liberaler. Dem ist nicht mehr so.

John Locke, (1632 – 1704)

(3) Einen der bemerkenswertesten Punkte, den Haivry und Hazony anführen, betrifft die Schwäche der Annahmen zu Lockes Second Treatise of Government. Er beginnt mit einer Reihe von Axiomen, die ohne jegliche einleuchtende Verbindung zu dem sind, was man aus dem historischen und empirischen Studium des Staatswesens wissen kann. Unter anderem behauptet Locke, dass (1) der Mensch vor der Einrichtung von Regierungen in einem "Naturzustand" lebte, in dem (2) "sich alle Menschen auf natürliche Weise in einem Zustand perfekter Freiheit befanden" sowie (3) in einem "Zustand perfekter Gleichheit, in der es natürlich keinen Vorrang oder Rechtsbefugnis des einen über einen anderen gab". Darüber hinaus hat (4) dieser Naturzustand "ein Naturgesetz, das ihn beherrscht"; und (5) ist dieses Naturgesetz, zufällig nichts anders als die menschliche "Vernunft" selbst, die "die gesamte Menschheit lehrt, die sie lediglich um Rat fragt". Genau diese Vernunft, bei allen Menschen dieselbe, führt sie (6) dazu den Naturstatus zu beenden, "gemeinsam übereinzukommen ... in ein Gemeinwesen einzutreten", mit einem Akt freier Übereinkunft. Aus diesen sechs Axiomen heraus geht Locke dann dazu über den angemessen Charakter der politischen Ordnung für alle Nationen der Erde abzuleiten.

Drei wichtige Dinge sollten zu diesem Satz an Axiomen vermerkt werden. Zum ersten sind die Elemente von Lockes politischer Theorie nicht aus Erfahrung heraus bekannt. ... Als zweites muss festgestellt werden, dass es keinen Grund gibt zu glauben, dass irgendeines der Axiome Lockes auch tatsächlich zutrifft. ... Drittens verzichtet Lockes Theorie nicht nur auf die historische wie die empirische Grundlage des Staats, sie impliziert zudem, dass solche Recherche, wenn nicht völlig unnötig, dann von zweitrangiger Bedeutung sind.

Kommentare: (1) Wie schockierend, zu erkennen, dass das Gründungsdokument des Liberalismus auf reiner Fantasie gründet. (2) Mit anderen Worten: Diese politische Philosophie beruhte von Anfang an auf falschen Voraussetzungen. (3) Die Dinge wurden im Verlauf der nächsten 329 Jahre nicht besser.

Update vom 1. August 2018: Rick Shenkman vom History News Network erinnert mich an die unsterbliche Zusammenfassung des Konservatismus, wie sie von John Dickinson auf der Verfassunggebenden Versammlung von 1787 in Philadelphia verkündet wurde: "Die Erfahrung muss unser einziger Wegweiser sein. Die Vernunft könnte uns in die Irre führen."

Update vom 28. August 2018: An dieses Argument habe ich heute im Wall Street Journal bei "Venezuelas Tyrannei der schlechten Ideen" angeknüpft.


[i] Ein Lob auf die Gesetze Englands

[ii] Das zweite Traktat über Regierung

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