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Liebe/r Leser/in,

zugegeben, wir wissen kaum etwas voneinander. Und das Wenige, das wir wissen, ist eher ernüchternd. Sie und ich – wir können uns ziemlich übel aufführen. Wir können andere enttäuschen. Wir können andere im Stich lassen. Wir können andere ausnutzen, übervorteilen, ihnen Fallen stellen. Wir können sie belügen. Wir können ihnen Schmerzen zufügen. Ich behaupte nicht, dass wir das wirklich tun. Aber ich weiß, dass wir es könnten. Sie und ich – wir sind vom selben Schlag. Wir gehören zu jener bemerkenswerten Spezies, die seit jeher damit beschäftigt ist, sich selbst und ihren Artgenossen das Leben zur Hölle zu machen.

Ich würde mich dennoch freuen, wenn wir mehr voneinander wüssten. Dass Sie hier und jetzt nicht gleich alles über sich preisgeben wollen, ist verständlich. Dann mache ich mal den ersten Schritt und beichte Ihnen eine meiner vielen Schwächen: Es gibt Geschichten, die mich aus der Fassung bringen. Es ist nicht so, dass sie mir die Tränen in die Augen treiben. Aber sie rühren mich. Sie lassen mich nicht los. Über Tage oder Wochen. Sie verfolgen mich.

So wie die Geschichte der vier Kinder, die nach einem Flugzeugabsturz 40 Tage im kolumbianischen Urwald überlebten. Ich weiß, die Bilder der vier geretteten Geschwister gingen um die Welt. Dass vier Kinder – das älteste 13 Jahre jung, das jüngste gerade mal elf Monate – auf sich allein gestellt so lange in der Wildnis durchhielten, dass die Suchteams sie tatsächlich aufspürten, dass sie den Absturz und all den Urwald überlebten, dass sie – entkräftet zwar, aber ohne größere Verletzungen – geborgen werden konnten, wurde als das wahrgenommen, was es ist: ein Wunder.

Ein Wunder, für das es doch bitte irgendeine Erklärung geben musste. Die dann auch gefunden wurde. Experten wiesen darauf hin, dass die vier Kinder zur indigenen Bevölkerung gehören. Sie seien mit der Natur und dem Leben in der Wildnis vertraut. Experten erklärten, Menschen könnten sehr lange ohne feste Nahrung überstehen – wenn sie nur genug trinken würden. Und Wasser sei im Regenwald ja genug vorhanden. Experten erklärten auch, dass im Dschungel auch Früchte zu finden seien – auch Samen würden als Nahrung taugen. Und Kolumbiens Staatschef schließlich erklärte, die Rettung sei nur deshalb möglich gewesen, weil die militärischen Suchtrupps mit den indigenen Einwohnern zusammengearbeitet hätten. Deren Kenntnis des Waldes sei von großem Nutzen gewesen.

Ich glaube das alles. Aber ich glaube nicht, dass diese Erklärungen das Wichtigste erklären: Warum haben die vier Kinder überlebt? Warum haben alle vier überlebt? Der Absturz verletzte ihre Mutter so schwer, dass sie nach einigen Tagen starb. Konnte sie ihren Kindern noch etwas sagen? Konnte sie ihnen Kraft geben, Zuversicht? Nach ihrem Tod waren die vier auf sich allein gestellt. Es kam nun auf die beiden „Großen“ an, auf die 13-Jährige und ihren 9-jährigen Bruder. Sie mussten die Entscheidungen treffen, die Nahrung suchen, den Schutz organisieren. Sie waren für den Zusammenhalt verantwortlich. Warum aber blieben sie zusammen? Das ist die eine Frage, die mich nicht loslässt. Es ist eine einfache Frage mit einer scheinbar einfachen Antwort. Es sind eben Geschwister. Sie halten eben zusammen.

Aber warum? Wäre es nicht zu erwarten gewesen, dass sich das hoffnungs- und hilflose Grüppchen der vier Kinder sofort auflöst? Hätte es für die beiden älteren Geschwister nicht eine erfolgversprechendere Überlebensstrategie gegeben, als sich 40 Tage und Nächte auch noch um die beiden Kleinsten zu kümmern? Warum zerbrachen in der Wildnis nicht jene seltsamen Bande, die wir mit dem Begriff „Familie“ verbinden? Die Kinder hatten ihre Mutter sterben sehen. Der Vater hatte die Familie verlassen müssen – war geflohen vor den Morddrohungen krimineller Banden. Was also bedeutete den Kindern ihre „Familie“?

Nun, etwas wissen Sie jetzt von mir: Eine Geschichte von vier Kindern im Dschungel bringt mich aus der Fassung. Sie lässt mich aber auch große Freude verspüren. Freude über diese bemerkenswerte Spezies, deren Vertreter sich zwar seit jeher das Leben zur Hölle machen. Die aber auch seit jeher umeinander bemüht sind. Sie und ich – wir gehören im Übrigen auch zu dieser Art. Wir können uns dazu beglückwünschen.

Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen einen guten Start in die Woche.

Herzlich grüßt

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Markus Krischer,
stellvertretender Chefredakteur FOCUS Magazin

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