Liebe/r Leser/in, nun prüft also das Landesverwaltungsamt die Verfassungstreue und persönliche Eignung des ersten AfD-Landrats der Republik. Tritt er die Menschenwürde? Hat er geklaut? Als ginge es nicht längst um so viel mehr als diesen einen Herrn Sesselmann. Der Schmerz über die machttektonische Verschiebung Richtung rechts außen wirkt weit über die Grenzen Thüringens. Alice Weidel ziert das Titelbild eines Wochenmagazins. Scholz beschwichtigt. Lindner empfiehlt die Linke als sanftere Alternative. Merz beschwört die Brandmauer und erklärt die Grünen zum „Hauptgegner“. Ratlosigkeit und Schuldzuweisung in jeder Talkshow. Es ist, als litte das Land unter Magenkrampf.
33 Jahre nach der Wiedervereinigung sehnen sich laut einer Studie zwei Drittel der Ostdeutschen nach der DDR. Aber gibt man Höcke die Stimme, weil Frank Schöbel zu alt geworden ist? Sicher, es bereitet Sorge zu lesen, dass Deutschland in allen Rankings nach unten taumelt. Dass die Ampel die Kontrolle über alles und auch die Schulden verliert, deutsche Unternehmen 2022 sagenhafte 144 Milliarden Dollar anderswo investierten, während das Ausland gerade einmal elf Milliarden Dollar in hiesige Gefilde brachte. Doomsday in Deutschland, so fühlt sich dieser Sommer ja wirklich an!
Man könnte nun also protestwählen, sich betrinken – oder einfach mal die Perspektive wechseln. Das hübsche Pink der Balkon-Geranie genießen oder auch: sich entspannt auf ein paar Anti-Untergangs-Fragen einlassen. Etwa diese: Wenn Aktien Hoffnung in Zukunft bewerten, warum stieg dann gerade erst der Dax auf Rekordhöhe? Und wenn wir früher deutsche Investitionen im Ausland als wünschenswerte „Globalisierung“ feierten, warum nennen wir sie nun „Deindustrialisierung“?
In den vergangenen Monaten ist FOCUS-Chefautor Thomas Tuma durch das Land gereist und hat mit sehr klugen Köpfen über die Herausforderung dieses Jahrzehnts gesprochen: Wie retten wir unseren Wohlstand? Welche Rahmenbedingungen brauchen Wirtschaft und Gesellschaft, um künftig erfolgreich zu sein? VW- und Porsche-Chef Oliver Blume empfiehlt „kontinuierlichen Leistungswillen – wie im Sport“, eigentlich sei alles da, was man für die Zukunft brauche, Qualifikation, Erfahrung, Pioniergeist. Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing wünscht sich „Leidenschaft“, McKinsey-Boss Fabian Billing träumt von einer CO2-neutralen Musterregion, und Bestsellerautorin Juli Zeh rät, sich dringend von einem Irrtum zu befreien: „Man kann vielleicht einen Familienurlaub, aber sicher keine ökonomischen und gesellschaftlichen Umbauarbeiten in einem 84-Millionen-Staat durchführen, indem man auf Klubdisziplin pocht“, schreibt sie. Müssen wir also endlich einsehen, dass Streit nicht stört, sondern zum Fortschritt gehört?
Mit den ersten zwölf klugen Köpfen beginnen wir nun die sechsteilige Serie „Deutschland 2030“ – eine Agenda für unsere Zukunft, Mut statt Murks! |