W&V Techonomics
von 08.04.2024 - 18:22 Uhr   » Zur Webversion
Jochen Fuchs

Jochen G. Fuchs, aka der ‚E-Fuchs‘, sortiert die Ereignisse der Woche aus den Bereichen KI, Tech und Commerce und analysiert daraus das, was wirklich wichtig ist.

Hallo John,

Das neue Gold im Internet sind Daten zum Trainieren von Künstlicher Intelligenz. 
 
Große Technologieunternehmen wie Meta, OpenAI und Google suchen verzweifelt nach solchen Daten ohne Copyright-Probleme. Aber die Quellen für solche Daten werden immer knapper und könnten bis 2026 aufgebraucht sein. 
 
Meta hat sogar überlegt, Geldstrafen zu riskieren, um an mehr Daten zu kommen, OpenAI eine Software namens 'Whisper' entwickelt, die Texte aus Videos oder Podcasts lesen kann und Google versucht, mehr Rechte an Nutzerdaten zu bekommen.
 
Ein möglicher Ausweg aus der Datenknappheit könnten künstlich erzeugte Texte sein, aber das kann auch zu mehr Fehlern führen. Oder gar zu “KI-Rinderwahnsinn”.
 
Mein Kollege Jörg Heinrich hat die Entwicklung ausführlich beschrieben: Hungrige KI: Finden Meta & Co. bald keine Trainingsdaten mehr? 
 
Mich hat in der vergangenen Woche das Aus für Amazon Just Walk Out beschäftigt. Das ist die Technologie hinter Amazon Go und Fresh, den kassenlosen Supermärkten. Wie die 1000 indischen Mitarbeiter:innen im Hintergrund den Checkout überwachten, wieso die Kassenschlange trotzdem tot ist und wie Amazon vom neuen Amazon Dash Cart, dem smarten Einkaufswagen, profitieren wird, erfährst du heute in Techonomics in meinem Artikel: Ist Amazons Versuch, die Kasse abzuschaffen, spektakulär gescheitert?
 
Das erwartet dich außerdem:
  • Google KI sperrt 5,5 Milliarden Anzeigen: Ad Safety Report
  • Besser als ChatGPT? Neues KI-Modell und KI-Roboter von Apple
  • Das bringt "Voice Engine" für den Einsatz im Marketing
  • Virtuelle versus reale Models: Ist die Werbewirkung identisch?
 
Viel Vergnügen beim Lesen wünscht Dir

Jochen G. Fuchs

 
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Ist Amazons Versuch, die Kasse abzuschaffen, spektakulär gescheitert?
 
Bild 1
Die erste Amazon-Go-Filiale im Day-One-Gebäude in Seattle im Jahr 2019. (Foto: Jochen G. Fuchs)
Es fühlte sich an, wie stehlen. Mit meinem Rucksack auf dem Rücken betrat ich wenige Monate nach der Eröffnung 2019 den ersten Amazon-Go-Store der Welt in Amazons Day-1-Gebäude in Seattle. Nachdem ich eine Weile neugierig umhergewandert war, packte ich nach einigem Zögern mehrere Produkte direkt in meinen Rucksack und verließ den Laden wieder. 
 
Ab dem zweiten Einkauf ließ dieser gefühlte "Diebstahl-Effekt" nach und verschwand ganz. Was blieb, war das Gefühl, aus Kundensicht gerade eine der größten Innovationen im Einzelhandel der vergangenen Jahrzehnte erlebt zu haben. Den Tod der Kassenschlange.
 
Heute, rund 5 Jahre nach dem der erste Amazon-Go-Store am 22. Januar 2018 seine Türen für die Öffentlichkeit öffnete, erleben wir den schleichenden Tod der Technologie dahinter:
 
 Amazon hat in seinen Fresh Stores die "Just Walk Out Technologie" abgeschafft. Stattdessen gibt es jetzt den smarten Einkaufswagen "Amazon Dash Cart" mit eingebauter Waage und Sensorik. 
 
Den können Kund:innen auch nutzen, um direkt im Einkaufswagen auszuchecken und die Kassenschlange zu vermeiden. Oder man steuert mit dem Einkaufswagen zusammen mit den Einkaufskorb-tragenden Nostalgikern eine klassische Kasse an und lässt sich von einem lebenden Menschen abkassieren.
 
Gestorben ist die Idee des kassenschlangenlosen Einkaufs also noch nicht.
 
Das Umschwenken auf den smarten Einkaufswagen und die Einführung der klassischen Kasse deuten aber schon ein wenig auf wesentliche Gründe für das Aus von "Just Walk Out" bei Amazon Fresh hin:
  • Aufwand: Die Technologie war zu aufwendig und zu teuer im Vergleich zu anderen, weniger komplexen Lösungen, wie dem smarten Einkaufswagen.
  • Die Technologie war fehlerhaft und der Checkout meist nicht ohne manuelle Unterstützung durchführbar
  • Customer Experience: Nicht alle Kund:innen sind so auf "Just Walk Out" angesprungen wie der Autor dieses Artikels.
Just Walk Out: Komplex, teuer und auch nach 5 Jahren noch unausgereift
Das US-Medium The Information hat im vergangenen Jahr schon geschrieben, dass das KI-Modell hinter Just Walk out nicht so effizient sei, wie es sein müsste
 
Laut dem Bericht von The Information hatte Amazon im Jahr 2022 mehr als 1.000 Mitarbeiter in Indien, deren Aufgabe es war, Transaktionen manuell zu überprüfen und Videoaufnahmen zu beschriften, um das maschinelle Lernmodell von "Just Walk Out" zu trainieren.
 
Das bedeutet, dass diese Mitarbeiter die Videoaufnahmen aus den Amazon Fresh Geschäften durchgingen und manuell markierten, welche Produkte von Kunden entnommen wurden. Dieses manuelle Labeling war nötig, um das KI-System zu trainieren und zu verbessern.
 
Trotz dieser Anstrengungen schaffte es das "Just Walk Out"-System nicht, die Zahl der manuellen Überprüfungen auf das interne Ziel von 20-50 pro 1.000 Verkäufe zu senken. Stattdessen waren rund 700 manuelle Überprüfungen pro 1.000 Verkäufe nötig. 
 
Manuelle Prüfung von Daten zu Trainingszwecken sind prinzipiell nicht verwerflich, sondern üblich. Aber die hohe Zahl der Mitarbeiter, die hier mehr als fünf Jahre nach dem Start des Systems am Werke war,  deutet darauf hin, dass sich die Technologie bis zuletzt nicht wunschgemäß entwickelte. Eine Entwicklungsabteilung in unbekannter Größe, Cloud-Architektur und eine manuelle QC-Abteilung in vierstelliger Größe sind erhebliche Kostenfaktoren.
 
Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Hardwareinstallation aufwendig ist: mehrere Weitwinkelkameras pro Quadratmeter, Hochleistungs-Wlan-Netzwerke, ausufernde Sensorik, gesicherte Breitbandverbindungen zum Upload in die Cloud, sowie digitale Schleusen an den Eingängen.

Der Kunde, das unbekannte Wesen
Vielleicht hätte Amazon die Technologie trotz der Hürden noch weiter vorangetrieben, wenn alle Kund:innen so euphorisch wie die Tech-Medien auf die Technologie reagiert hätten.
 
Ich stand damals vor dem ersten Amazon-Fresh-Pilot-Store in Seattle. Während ich versuchte, wortwörtlich einen Blick hinter den Vorhang (Am Eingang) zu erhaschen, sprach ich mit einigen solcher euphorischer Menschen, die angesichts ihrer ersten Erfahrungen mit dem kassenlosen Mini-Supermarkt Amazon Go die Eröffnung eines großen Supermarkts geradezu herbeisehnten. Toll, alle begeistert!
 
Das war ein Trugschluss, den Amazon bald korrigieren sollte. Das Unternehmen führte Just Walk Out bei Whole Foods als zusätzliche Zahlungsoption ein, nicht als einzige Zahlungsoption. Und erweiterte auch bei Fresh die Zahlungsoptionen um eine Kasse. 
 
Offensichtlich waren nicht alle angetan von der schönen neuen Welt: Die Kund:innen fremdelten mit den futuristischen Technologien, die digitale Schleuse vor dem Laden erwies sich als Barriere.
 
Das konnte ich vergangene Woche auf einer Reise wieder selbst erleben: Im Harry-Reid-Flughafen in Las Vegas steht ein Hudson-Convenience-Store, der auf Just Walk Out und Amazons Hand-Lese-Technologie Palm One setzt. Während der gut 45 Minuten, die ich dort rund um und in dem kleinen Laden verbrachte, war ich der einzige Kunde. 
 
An vorbeilaufenden Menschen mangelte es nicht. Aber die wenigen potenziellen Kund:innen schreckte die digitale Barriere ab. Die herbeieilende Mitarbeiterin kam nicht einmal dazu, ein Gespräch zu eröffnen; da waren die Passant:innen schon wieder weg. Dabei wäre neben Amazons Handflächenerkennung Palm One auch der simplere Zugang über eine kontaktlose Kreditkarte möglich gewesen. In den USA die am meisten verbreitete Zahlungsmethode.
 
Vielleicht war Amazon am Ende seiner Zeit sowohl technologisch als auch kulturell noch zu weit voraus.

Wie geht es weiter mit Amazons Just Walk Out Technologie?
Strategisch waren sowohl Just Walk Out als auch die Vermarktung an andere Retailer ein großer Wurf.  Um die Just-Walk-Out-Technologie zu nutzen, konnten (wohlgemerkt, konnten, nicht mussten) Kund:innen ihr Kundenkonto bei Amazon zum Einsatz bringen, was dem Konzern Daten über das Nutzungsverhalten hätte einbringen können.
 
Und die Kassenschlange zu eliminieren war und ist genial,  aber davon hat sich Amazon ja nicht verabschiedet. 
 
In allen zukünftigen Amazon-Fresh-Stores kommt jetzt Just-Walk-Out nicht mehr zum Einsatz und in den bestehenden Stores wird Amazon die Technologie zugunsten des smarten Einkaufswagens zurückbauen. In den kleinen Amazon-Go-Stores soll die Technologie bleiben, auch soll sie weiter von anderen Einzelhändlern lizensierbar sein.
 
Wieso Amazon jetzt auf smarte Einkaufswagen setzt
Die offizielle Stellungnahme von Amazon gegenüber USA Today zu diesem Thema äußert sich nicht zu den technischen und kulturellen Hürden, sondern schiebt den Kunden und dessen Zufriedenheit in den Vordergrund: "Wir haben viel Zeit damit verbracht, eine Reihe unserer Amazon Fresh-Geschäfte im letzten Jahr umzugestalten und ein insgesamt besseres Einkaufserlebnis mit mehr Wert, Bequemlichkeit und Auswahl anzubieten. Bisher haben wir positive Ergebnisse gesehen, mit höherer Kundenzufriedenheit beim Einkaufen und gestiegenen Umsätzen.
 
Wir haben auch von Kunden gehört, dass sie zwar den Vorteil des Überspringens der Kasse mit Just Walk Out genossen haben, aber auch die Möglichkeit wünschten, leicht Produkte und Angebote in der Nähe zu finden, ihren Kassenzettel während des Einkaufens einzusehen und zu sehen, wie viel Geld sie beim Einkaufen gespart haben."
 
Der letzte Halbsatz deutet darauf hin, dass Amazon beim smarten Einkaufswagen eine Möglichkeit sieht, die Rabatte für Prime-Mitglieder in den Amazon-Fresh- und Whole-Foods-Stores über den smarten Einkaufswagen noch stärker und personalisierter in den Vordergrund zu rücken. 
 
Und andererseits noch ein paar UX-Verbesserungen anzubringen, um den Anreiz zur Nutzung des Dash Carts zu erhöhen: eine gezielte Navigation durch den Laden zum Beispiel, die integrierte Wiegefunktion für Frischwaren wie Obst und Gemüse. 
 
Ob die Funktion des Warenkorbs mit der Vorschau der Gesamtsumme für einen Lebensmittelhändler strategisch sinnvoll ist, dürfte zwar fraglich sein, aber die Kund:innen werden das begrüßen: "Um unseren Kunden noch mehr Bequemlichkeit zu bieten, führen wir den Amazon Dash Cart, unsere intelligenten Einkaufswagen, ein, die all diese Vorteile einschließlich des Überspringens der Kasse bieten."
 
Zusätzlich hat der Dash Cart für Amazon gegenüber Just Walk out einen entscheidenden Vorteil: Das Display ermöglicht ein direktes und personalisiertes Marketing in Echtzeit direkt im Store. Die Navigationsfunktion lässt vermuten, dass Heatmaps mit den Bewegungszyklen der Kunden erstellt werden können. Und die Selbstbeschreibung des Dashcarts weist schon deutlich auf das Instore-Marketing mit ergänzenden Produkten und Angeboten auf dem Touch-Display  hin.
 
So könnte Amazon das gewohnte Online-Einkaufserlebnis seiner KundInnen mit Produktempfehlungen und der Bequemlichkeit einer Produktsuche ein wenig nachbilden.
 
Am Ende ist der smarte Einkaufswagen wohl die schlauere Entscheidung für Amazon, auch wenn der Autor dieses Artikels der Just-Walk-Out-Technologie etwas hinterher trauert.
 
Naja, es gibt ja noch Rewe Pick&Go. Jüngst hat der Rewe-Konzern den ersten großen Supermarkt mit der Konkurrenz-Technologie zu Just Walk Out in Hamburg auf 1200 Quadratmetern eröffnet. Ich kann nur hoffen, dass Rewe keine 1000 Clickworker braucht, um Pick&Go dauerhaft zu erhalten.
 
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