Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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26. Mai 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
vergangene Woche hatte ich an dieser Stelle … Halt, nein, es war nicht „an dieser Stelle“. Es war zwar in der Kolumne „Deutscher Alltag“, die in der gedruckten Zeitung noch jede Woche auf der dritten Seite des Gesellschaftsteils zu lesen ist. Aber es war nicht „an dieser Stelle“, schon allein deswegen nicht, weil die Phrase „an dieser Stelle“ seit geraumer Zeit allüberall in Film, Funk und Fernsehen und nicht zuletzt in Reden und Einlassungen des großciceronischen Kanzlers Olaf Scholz vorkommt. Deutschland, sagte Scholz im Februar zu Frau Illner, müsse sich „an dieser Stelle“ keine Vorwürfe machen lassen; er bitte, sagte Scholz im Januar im Bundestag, „an dieser Stelle“ die Bürger und Bürgerinnen um Vertrauen; bei der Maikundgebung appellierte Scholz wiederum „an dieser Stelle“ an die Arbeitgeber.

An dieser Stelle? An welcher denn? Meint er es örtlich, zeitlich oder sonst wie -lich? Könnte man statt „an dieser Stelle“ nicht auch den jeweiligen Wochentag einsetzen – „wir müssen uns dienstags nicht vorwerfen lassen ...“ – oder – das mochte Helmut Kohl sehr gern – „in diesem unserem Land“? Indula wurde das damals von Böswilligen abgekürzt. Heute könnte es andiste heißen. „Ich betone andiste, dass die Bundesregierung ...“

Natürlich steht es jedermann und jederfrau frei, so zu reden, wie er oder sie es kann. Dennoch aber ist es manchmal zumindest amüsant, wenn nicht zeithistorisch interessant, etwas genauer zuzuhören. „An dieser Stelle“ ist eine signifikante Füllphrase dieser frühen Zwanzigerjahre geworden, etwa so wie „Danke dafür“ (wofür sonst?) sowie das verwandte „ganz lieben Dank“. Kann Dank lieb sein oder ist die Dankende lieb oder ist der Dank lieb gemeint? Man weiß es nicht, aber es klingt zugewandt, und man möchte ein Herzchen formen mit den Händen. Herzchen? Mails werden gerne mit „herzlich“ oder „ganz herzlich“ unterschrieben, was meistens unabhängig vom wahren Verhältnis der sich Mails Zusendenden ist. Dieses „herzlich“ scheint mir eine Verbalisierung des gerne benutzten Herz-Emojis zu sein, das sehr häufig auftaucht und alles Mögliche zwischen Freundlichkeit und irgendwie lauwarmherzigem Mir-doch-egal symbolisiert. Überhaupt ist es sehr bemerkenswert, wie die globale Emoji-sagen-wir-Kultur eine Form der zeichenhaften Verständigung befördert, von der Otl Aicher mit seinen Olympia-Piktogrammen damals avantgardistisch geträumt hat.

Dazu passt dann auch, dass Otto, genannt Otl, Aichers Vorname heute selbst ein Emoticon ist. Die Buchstabenfolge OTL erinnert manche phänotypisch an einen auf dem Boden knieenden, eher verzweifelten Menschen. Wenn man also OTL in einer Textmessage schreibt, kann man damit meinen, dass man die Schnauze voll hat, dass alles doof ist, dass es keinen Zweck hat. Erfunden wurde OTL angeblich in Korea. Mittlerweile hat es sich digital verbreitet. Erdoğan gewinnt schon wieder, OTL.

Die Emojis tun jedenfalls das Ihre dazu, dass wir in einer Zeit der eher fortschreitenden Entalphabetisierung der Gesellschaft leben. Aber das ist nicht so schlimm, denn in der näheren Zukunft verändert das Mobicom sowieso alles. Es wird so anstrengende Dinge wie Bücher, Zeitungen oder anderes Zeug vielleicht nicht ersetzen, aber sie dennoch auf einen Status wie das Verbrennerauto im Jahre 2034 reduziert haben.

Nein, das Mobicom existiert noch nicht. Aber weil die SZ stets mehr Licht verbreitet als andere, teile ich Ihnen an dieser Stelle mit, dass Mobicom Nachfolger*in des Smartphone werden wird und der audiovisuellen Ganzgehirnkommunikation dient. Na ja, eher wird das Gehirn dem Mobicom dienen, weil man gar nicht mehr texten muss, also nicht mehr schreiben und lesen, sondern nur noch denken. Das Mobicom greift Gedanken direkt ab, weil Gedanken im Prinzip auch nur elektrische Impulse sind. Außerdem wird das Mobicom jeden Montagmorgen einen Achtsamkeitsimpuls zum Start in die Woche geben sowie kurze geführte Meditationen anbieten. Das Mobicom wird ein ganzheitliches Gerät sein und natürlich eine Emo-Waage zur Austarierung der Work-Life-Balance anbieten. Es fängt automatisch an, die Arbeitszeit zu messen, sobald der Nutzer „Arbeit“ denkt.

Apps wird es im Mobicom nicht mehr geben, weil es ja gehirnstromgesteuert sein wird. Apps zerlegen heute die virtuelle Realität in einzelne Bereiche (Newsapp, Fahrkartenapp, Datingapp). Das Mobicom aber wird das, was Menschen für die Wirklichkeit halten, in digitalisierte Wirklichkeit umwandeln, so wie ja auch Gedanken zunächst nur Wille und Vorstellung sind. Deswegen soll das erste Mobicom den Gerätenamen Schopenhauer erhalten, für den Weltmarkt allerdings auf Shopi verkürzt. Die Einführungskampagne für Shopi soll von 2025 an entweder unter dem Motto: „Du denkst, ich bin“ oder unter: „Du denkst nur, du bist“ laufen.

Noch ist das Mobicom nicht erfunden, obwohl ich es gerade benannt habe. Philosophisch gesehen habe ich es damit erfunden, weil der Name allein schon Existenz bedeutet. Sie wissen schon: Im Anfang war das Wort. Ach, Sie fragen jetzt: Was bedeutet denn Shopi in Zukunft für die SZ, wo clustert die denn in ein paar Jahren ihre Identität? Tja, das ist schwierig. Aber schon mal ganz lieben Dank für Ihr Interesse an dieser Stelle.
Kurt Kister
Redakteur
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