Liebe/r Leser/in, am späten Mittwochabend, als ich die Bilder der vielen trauernden Bürger in Halle sah, bekam dieser 9. Oktober wenigstens ein bisschen tröstliche Herzenswärme zurück. Menschen halten Kerzenlichter, rücken zusammen. Sie trauern um die Opfer des Attentäters Stephan Balliet, 27, der am Nachmittag in ihrer Stadt Menschen jüdischen Glaubens ermorden wollte und zwei Passanten tötete. Es war ein schwarzer Tag für Deutschland, und er ist nicht zu Ende. Denn das, was in Halle geschah, ist ein Anschlag auf uns alle. Es ist der traurige Beweis dafür, dass Antisemitismus in Deutschland immer noch lebt – allen Nie-wieder-Mahnungen zum Trotz.
1799 antisemitische Straftaten zählte das Bundesinnenministerium allein im vergangenen Jahr. An Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, waren am Mittwoch bis zu 80 Gemeindemitglieder im Gottesdienst, als der Neonazi die Synagoge im Hallenser Paulusviertel stürmen wollte. In Kampfanzug, mit Sturmmaske, Stahlhelm. Auf dem Helm ist eine Kamera installiert, mit der er sein Morden live ins Internet überträgt wie schon der Rechtsterrorist Brenton Tarrant, der im März in Christchurch 51 Menschen in Moscheen ermordete.
Erst nach ewig langen 22 Minuten und 16 Sekunden steht Stephan Balliet der Polizei gegenüber. Wo waren die Einsatzkräfte bis dahin, und warum wurde die Synagoge in Halle nicht geschützt?
Für mich war der 9. Oktober bislang ein Tag der Freiheit. Vor 30 Jahren, vier Wochen vor dem Mauerfall, fühlte ich sie unvergesslich – mit meinen Eltern inmitten von fast 100.000 Demonstranten auf der Montagsdemonstration in Leipzig. Jetzt mussten wir erleben, wie brüchig unsere Freiheit ist. |