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Liebe/r Leser/in,

im Selbstlob sind sich die Spitzen von SPD, Grünen und FDP auch bei der Vorstellung ihres Koalitionsvertrags am Mittwoch treu geblieben: „Dokument des Mutes und der Zuversicht“, „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, „Deutschland besser machen“, „Modernisierung des Landes“, „eine digitalisierte und de­­karbonisierte Industrienation“.

Man denkt unwillkürlich: Geht es nicht auch eine Nummer kleiner – wenn natürlich auch dem rot-grün-gelben Anfang ein Zauber innewohnt.

Die Hauptüberschrift über dem Koalitionsvertrag lautet: „Mehr Fortschritt wagen“. Sie erinnert absichtsvoll an das legendäre Motto der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt: „Mehr Demokratie wagen“. Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler, der übrigens auch eine Große Koalition mit seiner sozialliberalen Mehrheit ablöste, katapultierte das Land in der Tat aus der Adenauer-Zeit in die Moderne der 70er Jahre. Erwähnt sei auch die Herabsetzung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre. Nach dem Willen der Ampel sollen die Bürger künftig schon ab 16 wählen dürfen.

Folgt also auf Angela Merkel gewissermaßen Olaf Brandt oder Willy Scholz? Die Anlehnung an Brandt überrascht schon deshalb, weil Olaf Scholz unter allen Gesichtspunkten eine Nähe zum disziplinierten Verantwortungsethiker Helmut Schmidt aufweist und eben nicht zum eher romantischen Charakter Brandts. Und wie Helmut Schmidt hört sich Olaf Scholz an, wenn er über die Notwendigkeiten spricht, die sich aus der eskalierenden Corona-Krise ergeben.

Das aktuell wichtigste Thema der deutschen Politik kommt im Koalitionsvertrag vor allem organisatorisch vor (Krisenstab im Kanzleramt). Und ausgerechnet die Position des neuen Bundesgesundheitsministers ist vorerst mit N. N. besetzt (bei allen anderen zentralen Ressorts weiß man zumindest inoffiziell, wer es werden soll).

Aber vielleicht ist das ja sehr alltagsklug. Denn Koalitionsverträge sind ja keine Drehbücher der Zukunft, sondern in erster Linie eine Bestandsaufnahme zu Beginn der gemeinsamen Regierungstätigkeit. Wie viel Machen auf das viele Wollen folgt, liegt im Nebel der Zukunft.

Als Helmut Schmidt 1974 von Willy Brandt übernahm, ging es längst nicht mehr um „mehr Demokratie wagen“, sondern vor allem um Problemmanagement: Inflation, Ölpreiskrise und Terrorismus (RAF, Schleyer, Landshut-Entführung).

Bereits im Krisenmodus startet die Ampel: Neben Corona haben wir schon heute eine Energiepreis-, eine Migrations-, eine Demografie- und eine Facharbeiterkrise – und als Folge von alldem möglicherweise bald eine Wachstumskrise.

Ein bisschen untergegangen ist am Jubel-Mittwoch der Ampel übrigens die Nachricht aus Schweden: Dort trat die Sozialdemokratin Magdalena Andersson nur Stunden nach ihrer Wahl zur Regierungschefin zurück, nachdem die Grünen die Koalition mit den Sozialdemokraten aufgekündigt hatten. Und auch in Deutschland, wo in den nächsten Tagen die grüne Basis über den rot-grün-gelben Koalitionsvertrag abstimmt, rumort es gewaltig.

Zu jeder Regierung gehört eine Opposition. Leider wird man vo­raussichtlich am Tag der Kanzlerwahl im Deutschen Bundestag noch nicht wissen, wer der Oppositionsführer ist, denn auch in der CDU rumort und irrlichtert es. Die jungen, konservativen Ministerpräsidenten in NRW, in Schleswig-Holstein und im Saarland müssen aufgrund des Zustands ihrer Partei im kommenden Jahr ihre Abwahl befürchten. Und das wäre für die bisherige Dauer­kanzler-Partei nach 16 Jahren Angela Merkel der Albtraum schlechthin. Die Mehrheiten verschieben sich, alle Umfragen deuten darauf hin. Die Radikalität des Neuanfangs, den wir dieser Tage erleben, erschließt sich noch nicht allen.

Mit vielen Grüßen

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Robert Schneider
Chefredakteur FOCUS Magazin

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