Daniel Pipes ist ein amerikanischer Historiker und Präsident des Middle East Forum. Seine Texte konzentrieren sich auf Islamismus, den Nahen Osten und die USA-Außenpolitik. Sein Archiv finden Sie auf www.danielpipes.org/.
Grégoire Canlorbe: Erwarten Sie, dass die George Floyd-Proteste im kollektiven amerikanischen Gedächtnis Spuren hinterlassen, die mit dem Vietnam-Krieg und den Anschlägen vom 11. September vergleichbar sind?
Daniel Pipes: Die große Frage lautet: Wird der aktuelle Linksruck zeitlich begrenzt oder dauerhaft sein? Ich befürchte, er ist dauerhaft, weil Liberale vor Progressiven kapitulieren wie niemals zuvor. Wird sich dieser Trend fortsetzen oder enden? Wann, das ist im Moment sehr schwer vorherzusehen.
Canlorbe: Donald Trumps Außenpolitik wird oft gepriesen als Aufgabe des Nationbuilding zugunsten kurzfristiger Interventionen, wirtschaftlicher Erstickung und einen Deal mit Feinden der USA abzuschließen. Wie bewerten Sie Trumps Vorgehensweise? Pflichten Sie John Boltons Kritik bei?
Pipes: Trump kam mit minimalem Wissen über die Welt draußen ins Amt, hatte nur Eindrücke und Emotionen. Ihm fehlten zudem eine Philosophie und ein Netzwerk. Das Ergebnis ist planlos gewesen. Bolton sah dies aus der Nähe und war verständlicherweise entsetzt. Glücklicherweise hat Trump einige solide Instinkte, zum Beispiel in Bezug auf China, den Iran, Israel und Venezuela; und er lässt sich vom Konsens des Establishments nicht einschüchtern. Bisher jedenfalls keine Katastrophe
Der Anschein täuscht: Erdoğan (sitzend) wünscht rückgängig zu machen, was Atatürk aufbaute. |
Canlorbe: Sie präsentieren den "moderaten Islam" als die Lösung für den militanten Islam. Wie erklären Sie, dass die Republik Türkei die Vision ihres Gründers Mustafa Kemal Atatürk hinter sich lässt und unter Recep Tayyip Erdoğan im Islamismus versinkt? Sehen Sie eine Parallele zwischen Atatürk und dem letzten Schah des Iran, Mohammed Reza Pahlevi, der von einer islamistischen Revolution gestürzt wurde?
Pipes: Logischerweise gibt es keine andere Alternative zum radikalen Islam als den Reform-Islam. Aber es dessen Erfolg ist nicht unausweichlich. Insbesondere die Tragödie der Türkei ist ein Ergebnis der Verknöcherung von Atatürks Ideen, wobei es wenig Entwicklung und keine Aufregung gibt. Der Vater des letzten Schah ähnelte Atatürk weit mehr als er selbst.
Canlorbe: Werden rechte Parteien im Westen dadurch entdämonisiert, dass sie dem Antisemitismus abschwören? Oder werden sie weiter als antisemitisch wahrgenommen, egal, was sie tun?
Pipes: Der Antisemitismus ist schon vor langem von hauptsächlich rechts nach Links gezogen; Jeremy Corbyn hat keinen konservativen Gegenpart. Heutzutage sind konservative Mainstream-Parteien eher philosemitisch als antisemitisch. Linke versuchen weiter aus Konservativen wie Viktor Orbán Antisemiten zu machen, aber das ist albern.
Bat Ye'or schrieb das Buch "Der Dhimmi" |
Canlorbe: Als die Juden unter islamischem Recht als Dhimmis (Bürger zweiter Klasse) behandelt wurden, schafften es manche von ihnen einflussreiche Positionen in der muslimischen Gesellschaft zu erreichen – wie Maimonides, der als Saladins Arzt diente oder Hasdan Ibn Shaprut und Samuel HaNagid, die hohe politische Posten inne hatten. Wie bewerten Sie das Schicksal von Juden in der zeitgenössischen muslimischen Welt?
Pipes: Die Stellung der Juden und Christen verbesserte sich dramatisch, nachdem die Kolonialmächte im 19. Jahrhundert dem Dhimmi-Status Einhalt geboten. Aber diese Verbesserung hielt nur so lange an, wie die Europäer vor Ort blieben. Als sie abzogen, fiel der Status von Juden und Christen weit hinter das zurück, was er traditionell gewesen war. Etwa 95 Prozent der Juden, die in mehrheitlich muslimischen Ländern lebten, sind bereits geflohen; die Christen folgen ihnen.
Daniel Pipes (DanielPipes.org, @DanielPipes) ist Präsident des Middle East Forum
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