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Liebe/r Leser/in,

wir treffen Olaf Scholz am Dienstagnachmittag in seinem Amtszimmer. Als wir eintreten, sitzt er hinter dem Schreibtisch und bearbeitet noch Akten.

Der Kanzler trägt – den Temperaturen und den Energievorschriften angemessen – einen Pullover in Grau. Ein wenig erinnert das an Helmut Kohls Strickjacke.

In dem gewaltigen Bau an der Spree regierten schon Gerhard Schröder und Angela Merkel. Immer wieder wurde die Ex-Kanzlerin von Andreas Mühe foto­grafiert, dem Sohn von Schauspieler Ulrich Mühe. Dem 43-jährigen Fotografen ist das Kanzleramt also wohlvertraut. Und so inszenierte er Scholz auf der Terrasse über dem Ehrenhof, im letzten Licht des Tages. Ein Mensch in der Kulisse der Macht.

Am Tag des FOCUS-Gesprächs haben die Oppositionsführer Friedrich Merz und Markus Söder der Ampelkoalition den bisher schwersten Wirkungstreffer verpasst: Mithilfe der unionsregierten Länder im Bundesrat erzwangen sie weitreichende Änderungen am Bürgergeld-Gesetz, dem wichtigsten sozialpolitischen Vorhaben der SPD in dieser Legislaturperiode. Doch Scholz wirkt nicht angeschlagen, nicht einmal getroffen. Ich hege den Verdacht, dass es ihm vielleicht gar nicht so unrecht ist, was die Union an Änderungen bewirkt hat. Laut Umfragen entspricht der Kompromiss den Wünschen der Mehrheit der Deutschen, darunter auch vieler SPD-Anhänger, die finden, dass Arbeit sich mehr lohnen muss als „Stütze plus“, also Geld vom Staat plus Zuverdienst.

Auch die FDP ist mit dem Kompromiss glücklicher als mit dem, was Arbeitsminister Hubertus Heil ursprünglich in das Gesetz geschrieben hatte: eine sanktionsfreie Vertrauensphase und hohe Schonvermögen. Heil ist der eigentliche Verlierer des Tages. Scholz aber geht als der Kanzler in die (SPD-)Geschichte ein, der das bei Sozialdemokraten weithin verhasste Hartz-IV-System von Schröder überwunden und durch ein Bürgergeld ersetzt hat. Auch das erinnert ein wenig an Kohl: Entscheidend ist, was hinten herauskommt.

Olaf Scholz ist ein Kanzler in der Krise. Viel, zu viel lief im ersten Amtsjahr nicht gut: die viel zu späte Reaktion auf die Energiekrise, die eklatanten Fehler bei der Gaspreisbremse, das Hickhack um die angeblich nicht notwendige und dann per Machtwort des Kanzlers erzwungene Laufzeitverlängerung für die drei letzten Atomkraftwerke, das Gezerre um die deutschen Waffenhilfen für die Ukraine, die schleppende Umsetzung der Wohngeldreform … Manches verantworten die heillos zerstrittenen Ampelpartner Grüne und FDP, doch alles geht am Ende mit Scholz und seiner Partei nach Hause. Höhepunkt dieser Woche: FDP-Vize Wolfgang Kubicki droht unter dem Eindruck der Niederlagen seiner Partei bei den Landtagswahlen und dauerhaft schlechten Umfragewerten offen mit dem Ende der Koalition.

Dabei hatte der Bundeskanzler kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine eine „Zeitenwende“ versprochen und damit Hoffnung gemacht auf einen neuen Olaf Scholz. Doch inzwischen erleben wir immer häufiger einen Politiker der Minimalkompromisse. Ein Beispiel dafür ist seine Verweigerung beim Thema Fracking. Statt zu bekennen, dass es ein Fehler war, die Abhängigkeit von Putins Erdgas zu vergrößern und auf diese Methode der Gasgewinnung im eigenen Land zu verzichten, bleibt Scholz auch jetzt – da kein russisches Gas mehr fließt – eisern beim Nein zum Fracking, um stattdessen Flüssigerdgas (LNG) aus anderen Ländern wie den USA teuer einzukaufen. Das Argument des Kanzlers: Fracking ist kein funktionierendes Geschäftsmodell. Doch das überzeugt ebenso wenig wie der Hinweis, man setze für die Zukunft auf die erneuerbaren Energien. Denn die stehen auf absehbare Zeit nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung, und Gas ist die Brückenenergie auf dem Weg zur klimaneutralen Zukunft.

Ich sehe nur einen triftigen Grund für den Kurs des Kanzlers: Er weiß, dass ak­tuell Fracking vor allem wegen der Grünen, aber auch der Skepsis der gesamten Bevölkerung kaum durchzusetzen wäre. Nach einer aktuellen Umfrage von Kantar für FOCUS sind 49 Prozent für und 39 Prozent der Deutschen gegen das Gas aus heimischem Boden. Also versucht Scholz es gar nicht erst und behauptet, man könne darauf verzichten. Damit schützt er seine Koalition und seine Kanzlerschaft. Aber schützt er auch die Interessen des Landes?

Das war eine der 125 Fragen, die wir ihm gestellt haben. Man sollte diesen Kanzler bei allen Unzulänglichkeiten des ersten Amtsjahres nicht unterschätzen. Er ist einer der erfahrensten, taktisch versiertesten Politiker des Landes. Seit Wochen versichert er uns nun, dass die Energiesicherheit für den Winter „wohl gewährleistet“ sei. Das ist sein großes Versprechen: Fürchtet euch nicht, denn ich führe euch sicher durch die Krise. Dazu passt die aufreizend stoische Art, in der er auch im Interview auf jede Frage reagiert. Ruhe als Ausdruck von Besonnenheit und Nervenkraft scheint für ihn erste Kanzlerpflicht zu sein.

Sollte es Scholz gelingen, die Bürger durch den kalten Winter zu bringen, ohne dass sie frieren oder verarmen, wird er in anderem Licht dastehen. Wenn nicht, sind dieser Kanzler und seine Regierung verloren. Dezember, Januar, Februar, März sind die Schicksalsmonate von Olaf Scholz!

Herzlich Ihr

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Robert Schneider,
Chefredakteur FOCUS-Magazin

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