Eine Wahl der Qualen
Liebe Frau Do, eine historische Bundestagswahl ist vorbei, und selbst die amtlichen Sieger zeigten sich gestern Abend auf den Wahlveranstaltungen in der Hauptstadt zerknirscht. Ein möglicher FDP-Bundesminister sagte mir, dass dieser Sieg „mehr als bitter“ sei. Ein einflussreicher CDU-Mann flüsterte: „Dass die AfD im Bundestag sitzt, wird auch zu Merkels historischen
szmtag

25. September 2017

Liebe Frau Do,

eine historische Bundestagswahl ist vorbei, und selbst die amtlichen Sieger zeigten sich gestern Abend auf den Wahlveranstaltungen in der Hauptstadt zerknirscht. Ein möglicher FDP-Bundesminister sagte mir, dass dieser Sieg „mehr als bitter“ sei. Ein einflussreicher CDU-Mann flüsterte: „Dass die AfD im Bundestag sitzt, wird auch zu Merkels historischen Verdiensten gehören.“ In der Tat haben die Deutschen ihr einstiges Wunschbündnis, die große Koalition, krachend abgewählt und eine rechte Protestpartei zur drittstärksten Kraft im Parlament gemacht. Erstmals seit 1949 gelangt eine Partei in das Parlament, deren führende Mitglieder klar fremdenfeindliche Positionen vertreten. Was das bedeuten könnte und wie es jetzt weitergeht, versuche ich in meinem Kommentar zu analysieren.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ist der große Verlierer der Wahl. Er wollte Kanzler werden und muss nun hoffen, dass ihm die gedemütigte SPD, die das schlechteste Ergebnis seit Aufzeichnung der Bundestagswahl erleben musste, den Parteivorsitz nicht doch noch entreißt. Der Merkel-Herausforderer hatte sich schon am Sonntagnachmittag mit Vertrauten zusammengesetzt und eine resolute Oppositionsstrategie als letzten Rettungsanker für sein Überleben zurechtgelegt. So polterte er in der „Berliner Runde“ in bester Gerhard-Schröder-Manier gegen die Kanzlerin und schloss eine erneute große Koalition aus. Die neue starke Figur der Sozialdemokratie kommt indes aus dem Eifelstädtchen Meindig und heißt Andrea Nahles. Die Ex-Juso-Vorsitzende soll am Mittwoch zur Fraktionsvorsitzenden gewählt werden. Jan Drebes hat den Abend im Willy-Brandt-Haus beobachtet.

Für Angela Merkel bedeutet der Entschluss der SPD mächtig Stress. Die einzig realistische Machtkonstellation ist nun ein Bündnis von Union, FDP und Grünen, die sogenannte Jamaika-Koalition. Doch man muss schon sehr viel von dem auf der Karibikinsel beliebten Rauschmittel geraucht haben, um sich dieses Regierungsbündnis vorzustellen. In der Flüchtlingsfrage, in der Energie-, Klima- und Steuerpolitik liegen tiefe Gräben zwischen Union, FDP und Grünen. Die erstarkten Grünen, die gegen den Trend zulegten, werden sich mit den Liberalen, die eigentlich auch ganz gerne in der Opposition ihre Gesundung vorantreiben wollten, in den Verhandlungen bis aufs Messer beharken. Und Angela Merkel muss moderieren, anstatt eigene CDU-Positionen umzusetzen. Eva Quadbeck hat sich die knifflige Rolle der Union angeschaut.

In der FDP-Parteizentrale erlebten die Liberalen gestern Abend etwas, was in den vergangenen vier Jahren selten vorkam. Trubel, Menschenansammlungen, Kamerawagen. Die FDP ist wieder da. Dem aus Wermelskirchen stammenden Vorsitzenden Christian Lindner ist mit einer vierjährigen Tour durch die Republik ein Kraftakt gelungen. Die Liberalen sind als Marke wieder sexy und nicht mehr „beschissen“, wie es FDP-Vize Wolfgang Kubicki 2013 sagte. Nun muss die FDP auch wieder regieren, auch wenn Lindner die Rolle in der Opposition für die kommenden Jahre gereicht hätte. Gregor Mayntz berichtet.

Und in Nordrhein-Westfalen? Das gleiche Bild. Verluste für die angeblichen Volksparteien, besonders für die SPD im Ruhrgebiet. Große Erfolge für die Liberalen, die über dem Bundesergebnis abschneiden und, wie etwa in Düsseldorf, nur knapp hinter der SPD liegen. Die AfD und die Grünen blieben dagegen an Rhein und Ruhr hinter ihrem Bundesergebnis zurück. Kuriosität am Rande: Wegen der regen Beteiligung bei der Wahl mussten einige Städte Stimmzettel nachdrucken. Die Kollegen von RP Online haben die Details.

Herzlichst

Ihr

Michael Bröcker

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