Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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10. Februar 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
man ist an diesem Wochenende ja fast versucht, wieder einmal über das einmalige Berlin zu schreiben. Berlin ist so einmalig, dass es an diesem Sonntag seine Wahl zum Abgeordnetenhaus wiederholen muss, weil es die beim ersten Mal nicht hingekriegt hat. Das gab es bisher in Deutschland nicht, Berlin ist, wie immer, weit vorne. Ist aber auch nicht so überraschend, weil fast alle, die in Berlin leben oder gelebt haben, nur zu gut wissen, dass die öffentliche Verwaltung in der Hauptstadt so effizient ist, dass sie vermutlich selbst den Neubau der Münchner S-Bahn-Stammstrecke oder die Errichtung von Stuttgart 21 noch schlechter machen könnte, als dies die dort Verantwortlichen ohnehin tun.

Wenn man mit Berlinern über ihre Stadt spricht, weisen sie einen recht schnell darauf hin, dass Berlin eben „eine Großstadt“ sei. Damit meinen sie, dass wirkliche Großstädte ungeheuer reizvoll sind, aber halt schwieriger zu regieren und zu verwalten sind. Viiiiel schwieriger. Es gibt Berlinerinnen und Berliner, die nachgerade stolz darauf sind, dass die Dinge bei ihnen nicht funktionieren. Das ist eine Art resignativer Lokalpatriotismus, der immer dann einen aggressiven Unterton gewinnt, wenn jemand von anderswoher, zum Beispiel aus Brandenburg oder, schlimmstenfalls, aus Bayern, auf missliche Dinge in Berlin hinweist. Die Berlinerin ist gerne davon überzeugt, dass es in Deutschland sowieso keine anderen Großstädte gibt und schon gar keine solchen wie Berlin. Das stimmt, es gibt nur ein paar Millionenstädte wie Hamburg, München oder Köln. Da funktioniert auch manches nicht, aber dennoch bleibt Berlin der unangefochtene Meister im Nichtfunktionieren. Das freut den Berliner, Meisterseinwollen ist ihm angeboren.

Die Berliner Lokalpolitik hat, seitdem Bonn nicht mehr Bundeshauptstadt ist, große Bedeutung gewonnen. Kanzler, Bundespräsident, Abgeordnete und Hauptstadtpresse sind ja auch irgendwie Berliner, auch wenn das Meisterseinwollen-Gen zum Beispiel bei Olaf Scholz eher unausgeprägt ist. Aber auch Scholz findet die dauernde Kritik an seinem, schönes altes Wort, Scholzomatentum ähnlich ätzend und degoutant wie der Berliner das dauernde Gemäkel an seiner tollen Stadt.

Die wirkliche Bedeutung der Berliner Lokalpolitik für den Bund oder für Thüringen oder für Freiburg ist ungefähr so groß, wie es früher mal die Bedeutung des Bonner Generalanzeigers für die Bundespolitik war. In Bonn haben alle den Generalanzeiger gelesen, weil er das Lokalblatt war und außerdem Hans-Dietrich Genscher erst morgens im Deutschlandfunk ein Interview gab und dann das Manuskript an den GA schickte. Der Generalanzeiger war eine örtliche Ausprägung der Hauptstadt Bonn. Der Berliner Senat nebst Abgeordnetenhaus wiederum ist eine örtliche Ausprägung der Hauptstadt Berlin, jedenfalls für die, die Berlin in erster Linie nicht als Berlin, sondern als Hauptstadt wahrnehmen. Viele Berlinerinnen und Berliner dagegen halten die Bundesregierung und den Bundestag für örtliche Ausprägungen der Tatsache, dass Berlin die wichtigste Stadt Deutschlands, wenn nicht Europas ist. (Der Berliner Tagesspiegel übrigens ist so etwas wie der Bonner Generalanzeiger nur ohne Genscher.)

Lokalpolitisch gesehen haben Berlin und Bayern manches gemeinsam. Zum Beispiel sind sowohl die bayerische CSU als auch die Berliner SPD gute Argumente dafür, dass häufigere Regierungswechsel dringend nötig wären. Andererseits aber sind die bayerische SPD und die Berliner CDU wiederum schlechte Argumente dafür, dass ausgerechnet sie von solchen Regierungswechseln profitieren sollten. Die Berliner Grünen ähneln, wenn auch nicht phänotypisch, den bayerischen Freien Wählern, weil beide Parteien es zum Beispiel verstehen, ihre erhebliche politische Mittäterschaft bei manchen Dingen in der Regierung so zu verschleiern, dass es für etliche so aussieht, als könnten sie eine Alternative sein. Im Gegensatz zu Berlin existiert die Linkspartei in Bayern kaum, was auch, aber nicht nur damit zusammenhängt, dass das Hasenbergl eine andere Geschichte hat als Marzahn-Hellersdorf.

Berlin jedenfalls hat sich im letzten Vierteljahrhundert sehr verändert, ohne sich deswegen grundsätzlich verändert zu haben. München, um eine Nicht-Großstadt zu nennen, hat sich kaum verändert, was sich auch darin niederschlägt, dass der amtierende Oberbürgermeister so wirkt wie ein joviales Amalgam seiner beiden Vorgänger. In Berlin dagegen erinnert die noch amtierende Regierende an keinen ihrer Vorgänger, was nicht unbedingt von Nachteil wäre, bestünde nicht die Gefahr, dass es ihre Nachfolgerin (m/w/d) als problematisch empfinden könnte, zu sehr an die Vorgängerin zu erinnern – sogar wenn die Nochregierende sich selbst nachfolgen sollte. Das ist ein komplizierter Satz, der aber den Leserinnen in Hamburg und den Lesern in Köln schon zuzumuten ist.

Jetzt bleibt also nur noch die Freude auf die Wahl in Berlin. OSZE-Beobachter werden keine dabei sein. Das ist auch richtig, denn im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen Wahlen nicht regelgerecht ablaufen, wollen die Berliner ja eigentlich alles richtig machen bei so einer Wahl. Sie wollen nicht fälschen und nicht manipulieren. Und sie möchten gerne, dass alle Wahllokale offen und gut besetzt sind, dass die Wahlzettel stimmen und hernach richtig ausgezählt werden. Das wollen sie, die Berliner. Mit heißen Herzen. Aber sie sind halt auch Berliner.
Kurt Kister
Redakteur
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