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Kurzstrecke |
Tagesspiegel Checkpoint vom Mittwoch, 07.10.2020 | Zunächst noch sonnige Abschnitte, später ziehen Schauer durch bei max. 16°C. | ||
+ Berlin hat seine Freiheit verspielt + Ein Bildungspaket voller Probleme + Pop-up-Radwege dürfen erstmal bleiben + |
von Anke Myrrhe |
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Guten Morgen, ein Zeichen setzen müsse man jetzt, sagte Michael Müller gestern Vormittag, als hinter verschlossenen Senatstüren erneut heftig gestritten wurde. „Wir können jetzt nicht hier rausgehen und sagen: Wir warten noch mal drei Tage ab“, soll der Regierende wütend vor allem in Richtung des Grünen-Justizsenators gesagt haben, der sich die rasant steigenden Corona-Zahlen gern noch ein wenig länger angeschaut hätte. Es musste auf Chefebene beraten und vertagt werden, bis das Zeichen ganz von selbst kam: Zwanzig Minuten vor der anberaumten Sondersitzung am Nachmittag sprang die zweite Corona-Ampel auf Rot und auch dem Letzten wurde klar: Der Sommer ist vorbei, Berlin hat seine Freiheit verspielt. All das Zusehen, Wegsehen, Hoffen, dass wir vielleicht besser durchkommen als Madrid und Paris, wo schon wieder Lockdown ist – es hat nichts geholfen. Die Realität kommt mit all ihrer Härte zurück und die sieht ab Samstag, 0 Uhr, bis mindestens 31. Oktober, so aus: Zwischen 23 Uhr und 6 Uhr morgens müssen Gaststätten, Bars, Supermärkte und Spätis schließen, Tankstellen dürfen nur noch Fahrzeuge betanken. Treffen dürfen sich in dieser Zeit nur fünf Personen auf einmal oder Personen aus zwei Haushalten. „Ausschank, Abgabe oder Verkauf von alkoholischen Getränken zwischen 23 Uhr und 6 Uhr des Folgetages“ sind laut Bußgeldkatalog mit einer Strafe von 5000 bis 10 000 Euro zu ahnden und Lokalitäten bei Renitenz zu schließen, sagte Behrendt. „Wir bringen die Stadt zur Ruhe.“ Beruhigen musste sich zunächst allerdings erst einmal Müller selbst, der leicht rotbackig am frühen Abend zurückkeilte in Richtung der Spahns und Söders, die ihm zuletzt in seine Stadt hineingepoltert hatten (Söder gestern: „Ich befürchte, das ist am Rande der Nicht-mehr-Kontrollierbarkeit“). „Unerträglich“ sei es, „wie einige hier Haltungsnoten vergeben. Diejenigen, die sich eigentlich sonst nicht für Berlin interessieren und auf einmal ganz genau wissen, wie die Situation in Berlin ist und was hier zu tun ist.“ Müller führte die lange Liste der Großstädte auf, in denen die Zahlen ähnlich infektiös sind wie hier (München, Köln, Frankfurt/Main, Essen, Bremen). „Wer kann eigentlich mit dieser Grundlage mit dem Finger auf wen zeigen?“ Kurz mal umgesehen: Alle aufeinander. Denn an der Ausbreitung der Pandemie sind die Unvernünftigen ebenso schuld wie jene, die sie den Sommer über durch mangelnde Kontrollen und zu viel (Nach)Lässigkeit haben gewähren lassen. Dass nun Gastronomiebetriebe und Bars eingeschränkt werden, erscheint auf den ersten Blick ungerecht, da doch vor allem private Feiern in geschlossenen Räumen das Infektionsgeschehen zu treiben scheinen – Treffen mit Freunden, Hochzeiten, Geburtstage: Auch sie dürfen ab Sonnabend drinnen nur noch mit maximal zehn Leuten stattfinden. Den symbolischen Effekt der Sperrstunde sollte man aber nicht unterschätzen: Den Lockdown ins Gefühl zurückrufen. War da nicht etwas? Die Gastronomen trifft es nun vor allem, weil wirklich niemand kontrollieren kann, ob drinnen nur Schnitzel serviert werden oder auch Shots. Werden nicht noch heute in vielen Raucherkneipen die Buletten unterm Tresen gereicht? Mit der Freiheit, das haben die letzten Wochen gezeigt, kann Berlin nicht umgehen. Es gehört zur Folklore dieser Stadt, dass sie sich nicht an die Regeln hält. Und wenn niemand kontrolliert, wird Ansteckung serviert. Nun heißt es: Den Aufwand minimieren. Licht aus? Weiterfahren. Damit sich Barbetreiber nicht zwischen Konkurs und Illegalität entscheiden müssten, kündigte Kultursenator Lederer (Linke) finanzielle Hilfe an. Behrendt allerdings konkretisierte: Für Bars, aber nicht für Restaurants. Die hätten ihr Geschäft um 23 Uhr schließlich bereits gemacht. Die gebeutelten Gastronomen würden ihm dafür vermutlich gern ein liegengebliebenes Steak um die Ohren hauen. Nicht nur, dass viele im Normal-Berlin bis weit nach Mitternacht brutzeln, sie haben aufgrund von Abstandsregeln, fehlenden Touristen und allgemeiner Zurückhaltung bei Genuss und Geld in den vergangenen Monaten große Verluste erlitten. Und gestern kündigte nun auch noch Berlins oberste Touristenwerber von Visit Berlin an, bis auf Weiteres keine Touristen mehr werben zu wollen. Wenn die Herren Regiermeister und Senatoren auch im nächsten Jahr nach der Senatssitzung noch gepflegt speisen wollen, vegetarisch oder nicht, dann sollten sie hier noch mal über einen zweiten Gang nachdenken. Lauwarm schmeckt nur Kartoffelsalat, und den leckersten gibt’s leider in Bayern. | |||
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Die dritte Corona-Ampel ist übrigens noch grün, allerdings berichtet die Charité, dass immer mehr Patienten intensiv betreut werden müssen. In diesem Zusammenhang eine kleine Erinnerung: Der Vertrag für die Corona-Klinik auf dem Messegelände läuft Ende des Jahres aus. Die Wirtschaftsverwaltung plant, die Messehallen dann wieder für das zu nutzen, wofür sie eigentlich vorgesehen sind. „Oberste Priorität bleibt der Gesundheitsschutz“, aber: „Wir tun alles, um das gebeutelte Messegeschäft unter Bedingungen der Pandemie wieder stattfinden zu lassen“, hieß es gestern aus Pops Verwaltung. „Über den weiteren Umgang wird der Senat zu gegebener Zeit beraten.“ Die Gesundheitsverwaltung kommentierte knapp: Der Senat werde „im Laufe des Winters entscheiden“. Na, hoffentlich checken da alle rechtzeitig ihre Kalender. | |||
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In den Gesundheitsämtern wissen die Mitarbeiter inzwischen weder ein noch aus – und einige offenbar auch nicht, was Sache ist, wie das Beispiel von Stephan und Anne L. aus Wilmersdorf zeigt. Als er vor zwei Wochen von der Corona-Infektion eines engen Kollegen erfuhr, war ihm sofort klar, dass er als Erstkontakt in Quarantäne musste. Doch wie sollten sich seine Frau und der vierjährige Sohn verhalten? Auskunft vom Gesundheitsamt: Kein Problem, sie soll zur Arbeit gehen. Anne L. ist Erzieherin. Weil ihr das komisch vorkam, fragte sie in ihrer Kita nach: Nein, sie könne nur zu Hause bleiben, wenn das Gesundheitsamt eine Quarantäne-Pflicht anordne. „Sonst könnte ja jeder jederzeit zu Hause bleiben“, habe die Kitaleitung gesagt. Es folgte ein Pingpong zwischen Gesundheitsamt und Kitaleitung: Kein Erstkontakt, keine Quarantäne. Ihrem Mann ging es am nächsten Tag nicht gut, trockener Husten, Hitze, Schläfrigkeit, das Innere des Körpers fühle sich gruselig an, sagt Stephan L., der in seiner Quarantäne auf einen Test wartete. Anne L. wollte in dieser Unsicherheit keinesfalls in die Kita, also nahm sie zwei Tage frei, ließ sich krankschreiben. Als Erzieherin bekam zumindest sie schnell einen Test und zwei Tage später das Ergebnis: negativ. „Aber wegen der Inkubationszeit sei das kein sicheres Ergebnis, sagte man mir.“ Vier Tage später bekam auch Stephan L. endlich sein Ergebnis: positiv. Anne L. und der kleine Sohn waren zu diesem Zeitpunkt schon wieder in der Kita. Sie rief beim Gesundheitsamt an, mehrfach, immer dieselbe Antwort: Das passt schon, gehen Sie zur Arbeit. War sie denn nun nicht auch ein Erstkontakt? Erst am nächsten Tag erreichte sie eine Mitarbeiterin, die sofortige Quarantäne anordnete. Sie entschuldigte sich: Es gebe so wenig Personal, dass inzwischen Hinz und Kunz eingestellt würden. „Für Schulungen bleibt keine Zeit.“ | |||
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Ganz anders gehandhabt hat eine ähnliche Situation das Biesdorfer Otto-Nagel-Gymnasium. Als die Schulleitung von der Infektion eines Kindes erfuhr, reichte es ihr nicht, eine Klasse in Quarantäne zu schicken – sie stellte gleich den ganzen Unterricht auf Homeschooling um. Weil sie es kann. Die Schule ist seit Jahren vorbildlich in Sachen Digitalisierung und profitiert nun davon, den Unterricht über Videokonferenzen durchführen zu können. „Eine reine Vorsichtsmaßnahme“, sagt die Schulleitung. Wenn das mal Schule machen würde. | |||
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Davon allerdings ist Berlin weit entfernt, das ist ebenso bekannt wie die fehlenden Knöllchenschreiber und Bürgeramtstermine. Wie schlimm die Lage wirklich ist, bekommt die Schulverwaltung nun auf eigenen Wunsch als dickes Paket präsentiert: Die vor einem Jahr von Senatorin Scheeres eilig einberufene Qualitätskommission um den Kieler Bildungsforscher Olaf Köller stellte heute ihren Bericht vor. Spoileralarm: Es bleibt kein maroder Backstein auf dem anderen. | |||
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Nach ein paar iPads, versprochenen Laptops und allerei anderer Planlosigkeiten hat meine Kollegin Susanne Vieth-Entus ein besonders schönes Beispiel für sinnlos ausgegebene Millionen aus dem Märkischen Sand gebuddelt: Im Rahmen des Zehn-Millionen-Programms „Berlin Challenge“ sollten (auf Wunsch der SPD-Fraktion) 20 Schulen jeweils 470 000 Euro bekommen – in zwei Tranchen auf dieses und nächstes Jahr verteilt. Als diffuses Ziel wurde „Unterrichtsentwicklung“ benannt. Allerdings haben die Schulen überhaupt erst in den Sommerferien erfahren, dass sie ausgewählt wurden. Nun haben sie nur noch drei Monate Zeit, um die ersten 235 000 Euro auszugeben, ansonsten verfällt das Geld. Wenn sie wenigstens googeln könnten... | |||
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