Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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18. Oktober 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
das Foto misst acht mal fünf Zentimeter und hat jenen hellen Sepia-Braunton, den alte Schwarz-Weiß-Abzüge annehmen. Auf ihm ist ein sechsjähriger Bub zu sehen, der eine Schultüte in der linken Hand hält und ein Schild. Auf dem Schild steht: „Dem ABC-Schützen Fritz Kister, Weimar, Wilder Graben 3“. Das Foto wurde 1932 aufgenommen, der kleine Fritz trägt eine Matrosenbluse und hat ein so breites Lächeln, dass man meinen könnte, er freue sich auf die Schule. Wenn man im Oktober 2024 den Begriff ABC-Schütze ins Laptop tippt, unterringelt ihn der digitale Korrekturkobold rot. ABC-Schütze kennt das Programm nicht.

Der kleine Fritz aus Weimar wurde später mal mein Vater, vor einem Jahr ist er 98-jährig gestorben. In seinem Nachlass fand sich ein Fotoalbum voller sepiabrauner Aufnahmen aus dem Weimar der späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre. Die Familie war bürgerlich, die Mutter Hausfrau, die sich um drei Kinder kümmerte, der Vater Angestellter in einem Kaufhaus. Auf den Fotos trägt Vaters Mutter häufiger einen Kapotthut – diesen Begriff kennt der Korrekturkobold erstaunlicherweise –, ihr Mann Krawatte, auch beim Sonntagsspaziergang.

Es sind knapp 60 Aufnahmen, die einen in eine Zeit schauen lassen, in der das Kaufhaus Hermann Tietz in Weimar „arisiert“ wurde (das war 1934), und in der oberhalb der Stadt auf dem Ettersberg die SS von Juli 1937 an das KZ Buchenwald „betrieb“. Von dieser großen, grausigen Geschichte weiß das Album nichts, genauso wenig wie von Goethes Weimar. Kein Schloss, kein Gartenhaus, nicht einmal das Goethe-Schiller-Denkmal ist auf auch nur einem der Fotos zu sehen. Nur Frauen, Männer, Kinder im Schnee, im Park, im Garten. Kleine Leben halt.

Es ist eines jener Alben, von denen man viele auf Flohmärkten findet. Die Jungen können nichts mehr damit anfangen, und wenn sich niemand mehr daran erinnert, wer auf den Sepia-Fotos zu sehen ist, verschwindet so ein Album als letzter Teil der vor hundert Jahren festgehaltenen kleinen Leben. Man kann ja nicht alles aufheben, oder? Und Fotos auf Papier sind ohnehin so was von vorgestrig, jedenfalls für jene, die digitalisiert aufgewachsen sind. Wer Papierfotos daheim hat, hat wahrscheinlich auch noch Dias irgendwo und außerdem noch ein Faxgerät. Genau. Uralte Zeiten.

Seit 2013 sind auf meinem Telefon 4879 Fotos gespeichert. Wenn Sie diesen Satz hier lesen, werden es schon wieder ein paar mehr sein. Ich habe noch nie in meinem Leben so viel fotografiert. Gleichzeitig bedeuten viele dieser Fotos wenig bis nichts, weil etwas, von dem man sehr viel hat, an spezifischem Wert verliert. Menschen, die eine, freundlich gesagt, liberalere Vorstellung von Privatleben haben als ich, stellen diese Fotos zur öffentlichen oder halböffentlichen Einsicht ins Netz. Dies hat längst eine Inflation besonderer Art bewirkt: Wenn man mal ein Foto sieht, auf dem Markus Söder einen Schweinsbraten isst, kann das lustig sein. Wenn aber Söder sein Essen habituell fotografiert und die Bilder dann veröffentlicht, sind sie Teil jenes unübersehbar riesigen digitalen Müllbergs, in dem diese Gesellschaft lachend verschwindet, sollte sie nicht vorher wegen Starkregens ertrinken oder anderweitig dem Klimawandel zum Opfer fallen.

Das Verblassen von Erinnerung ist ein zutiefst menschlicher Prozess. Bliebe alles, wenn auch immateriell, gegenwärtig, abrufbar, scrollbar, würde dies zu einer Überforderung des Individuums, aber auch der Gesellschaft führen. Mein Vater liebte das Fotoalbum, weil es die einzige Verbindung zu seiner Kindheit war, ich finde es immer noch interessant, und mein Sohn wird es wahrscheinlich nur noch als Artefakt aus einer Zeit sehen, aus der sein Opa stammte. Die Cloud aber, die über uns allen schwebt und in der alles aufbewahrt wird, auch vieles, was des Vergessens würdig wäre, wird die Arbeit der Archäologen in der Zukunft möglicherweise überflüssig machen. Warum soll man etwas ausgraben und dann interpretieren, was sich „abrufen“ lässt? Digitale Speichermedien verlängern „Echtzeit“ nahezu beliebig. Und da jeder und jede alles in der Nähe Befindliche aufnehmen kann (und viele das auch tun), würde es heute von Caesars Ermordung mindestens 20 Videos geben.

Wenn man bedenkt, wie drastisch sich menschliche Kommunikation in den vergangenen 20 Jahren verändert hat, fragt man sich, vielleicht besonders als Angehöriger der Fotoalbum-Generation, wie das in einem weiteren Vierteljahrhundert sein wird. Der durchschnittliche Stadtbewohner geht, steht und sitzt heutzutage fast immer mit leicht erhobenem rechten oder linken Arm und blickt auf den Bildschirm seiner Netzmaschine. So wie man noch nie so viel fotografiert hat wie heute, waren noch nie so viele Menschen mit anderen Menschen verbunden, ohne deswegen in Kontakt mit ihnen zu sein. Das digitale Selbst wird in absehbarer Zeit das heute noch als real empfundene Selbst weitgehend ersetzen. Übertragen auf die Vergangenheit wäre das ungefähr so, wie wenn ich zu meinen Großeltern, die ich nie kennengelernt habe, ins Fotoalbum steigen könnte.

Jedenfalls werde ich das Album aufheben. Ich könnte es natürlich auch digitalisieren lassen, sodass ich es auf meinem Telefon speichern könnte. Aber da regt sich bei mir das Gefühl: Das gehört sich nicht. Altmodisch.
Kurt Kister
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