Liebe/r Leser/in, es jährt sich in diesem Spätsommer zum 35. Mal, dass die Zustände im eingemauerten Ostblock ins Tanzen gerieten. Mit dem Paneuropäischen Picknick am 19. August schnitten freiheitsliebende Ungarn erste Löcher in den Eisernen Vorhang.
Hunderten DDR-Bürgern gelang die Flucht in den Westen, es begann ein Exodus, der nicht mehr aufzuhalten war. Am 22. August 1989 musste die westdeutsche Botschaft in Prag wegen Überfüllung schließen.
Tag für Tag waren mehr Menschen über den bis zu vier Meter hohen Zaun geklettert, bis Außenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon am 30. September jenen denkwürdigen Satz begann: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“
Weiter kam er nicht, 4000 DDR-Bürger, die teils wochenlang
im Botschaftsgarten campiert hatten, lagen sich vor Freude in den Armen.
Keine sechs Wochen später, am 9. November 1989, fiel die Mauer, und ich werfe mir heute noch vor, damals als junger Student nicht sofort nach Berlin gefahren zu sein und diesen glückseligen Moment der Weltpolitik daher glatt verpasst zu haben.
Mich erreichte die Weltgeschichte in der Redaktion einer Regionalzeitung, als
Kolonnen von exotischen Plastikautos im Schwäbischen anrollten und auch wir Praktikanten für Reportagen gebraucht wurden: Was passiert da gerade? Was sind das für Leute, die ihre Heimat für die Freiheit aufgegeben haben?
Es lässt sich schwerlich behaupten, dass diese gegenseitige Fremdheit zwischen Ost und West heute, eine Generation danach, völlig verflogen wäre.
Zu spüren ist das gerade jetzt, mit Blick auf die Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo an den Rändern Unerhörtes passiert.
Wohl wahr, die Ampelregierung hat in der gesamten Republik abgewirtschaftet, in den neuen Bundesländern jedoch dräut der ausgelaugten Koalition eine Schmach ohnegleichen: Was, wenn alle drei Regierungsparteien an der Fünfprozenthürde scheitern und aus einem Landtag fallen?
Der politisch-mediale Betrieb schaut mit Gruseln auf dieses fremde Deutschland, von Mauern in den Köpfen und Brandmauern ist die Rede.
Und das nach 35 Jahren im geeinten Deutschland. Die Mauer muss weg, haben wir deshalb unsere Titelgeschichte überschrieben. Gemeint ist diese Mauer der Alltagskulturen, der unterschiedlichen Lebenswelten, ein Relikt, an dem viele Regierungen gescheitert sind, weil Kultur sich eben nicht durch Gesetze oder Parteiprogramme verändern lässt.
Was fehlt, ist eine Kultur des respektvollen Verstehens, sonst wird aus dem exekutiven Projekt „Wiedervereinigung“ nie das werden, was vor 35 Jahren romantisch „Deutsche Einheit“ genannt wurde. |
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Körner, einen Ex-Wertpapierhändler, spürt spannende Aktien aus der zweiten Reihe auf. Die Fakten zur Premiere lesen Sie auf Seite 58. |