Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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26. Juli 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
der Mensch, vielleicht mit Ausnahme 15-jähriger Söhne, strebt nach Ordnung. Er teilt die Welt in Quadranten, Listen, Organigramme ein, die letztlich erklären sollen, wo der Platz des Menschen in dieser Welt ist. Über den Globus zieht er ein Netz von Längen- und Breitengraden; die Lebewesen reiht er nach Art, Gattung, Familie, Ordnung etc.; für die Phänomene der Natur findet er Gesetze und Gleichungen. Alles, was er so nicht erklären kann, hält er für „übernatürlich“, wobei das „Natürliche“ für das Ordnungswesen Mensch das Erklärbare ist. Ich tendiere eigentlich mehr dazu, dass das Natürliche das Unerklärbare ist, weil ich auch Schach für ein Glücksspiel halte und die Physik zu den Geisteswissenschaften zähle. Das mag eine Altersfrage sein, schließlich hat sich auch der Großrationalist Jürgen Habermas in seinem letzten Hauptwerk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ affektiv warm der Metaphysik angenähert.

Sehr verbreitet sind die diversen Versuche, das eigentlich unfassbare Phänomen Zeit zu ordnen. Da gibt es die Einteilung nach „Generationen“, worunter man früher mal 25 Jahre verstand, weil die Leute früher mit 25 Jahren Kinder bekamen, also eine neue Generation zur Welt brachten. In der Neuzeit – oder ist es die Moderne, gar die Postmoderne? – wird Gianna Nannini mit 56 Mutter, sodass nanninimäßig eine Generation 50 Jahre dauert. Andererseits verkürzen Buchautorinnen und Fernsehtalker die Generation als solche auch schon mal auf fünf oder 15 Jahre, je nachdem, was sie gerade beweisen wollen. Die sogenannten Generationen X, Y und Z zum Beispiel liegen zeitlich kaum auseinander, die Generation Taylor Swift liegt quer zu ihnen, und schon Florian Illies hat uns gelehrt, dass das Betreiben eines bestimmten Autos zu einer bestimmten Zeit für die Definition einer Generation hinreichend ist („Generation Golf“).

Es könnte sein, dass die beliebige Verwendung eines eigentlich ordnenden Begriffs wie „Generation“ eine unbewusste Auflehnung gegen das Ordnungswesen ist. Ein anderes Beispiel dafür: Menschen teilen die Verweildauer des Menschen auf der Erde gerne in Epochen oder Zeitalter ein: die Bronzezeit, die Hallstattzeit, das Mittelalter, die Renaissance. Besonders beliebt ist bei Publizisten und Innen zur Zeit die Steinzeit.

Vor zweieinhalb Millionen Jahren haben die Vorfahren des heutigen Menschen damit begonnen, Steine als Werkzeuge zu benutzen. Deswegen Steinzeit. Wenn nun heute ein Gebrauchspoet, eine Metaphernbenutzerin oder ein sonstwie sprachbewusster Mensch nach einem Bild sucht, das besondere Rückständigkeit symbolisieren soll, landet man gerne in oder bei der Steinzeit. Beliebt sind etwa die „Steinzeit-Islamisten“, die das Kalifat in Hamburg oder anderswo propagieren. In fast jedem Text, in dem die Roten Khmer in Kambodscha eine Rolle spielen, wird man das Wort vom „Steinzeitkommunismus“ finden. Natürlich gibt es auch die „Steinzeitnazis“, und in einem Positionspapier der FDP wurde mal das „Ende der digitalen Steinzeit“ gefordert, was sprachlogisch ungefähr so etwas ist wie das Servieren einer veganen Schlachtplatte. Jüngst war in einem SZ-Text, in dem Nordkorea vorkam, die Zuschreibung „steinzeitstalinistisch“ zu lesen.

In der Steinzeit begann der Mensch, sich sehr langsam als soziales Wesen zu organisieren. Die Gruppe, in der er lebte und ohne die er nicht überlebt hätte, kannte möglicherweise eine Art Hierarchie, war aber von Personenkult oder gar einer Ideologie noch viel weiter entfernt als Tino Chrupalla von Uwe Johnsons „Jahrestage“. Die Steinzeit also war der Beginn einer insgesamt erstaunlichen und durchaus positiven Entwicklung, die zu den Menschenrechten, zur Demokratie und zum Brunello geführt hat. Stalinismus oder Nazis sind ganz und gar nicht steinzeitlich, auch weil das vermeintlich Primitive in der Steinzeit der Beginn einer Entwicklung war, der Stalinismus aber ein Ende ist. Die Abirrungen des Menschen vom geraden Pfad werden umso deutlicher, je weiter er sich von der Steinzeit entfernt. Donald Trump zum Beispiel würde die Wahl nicht mit einem Faustkeil und nicht einmal mit einer Speerschleuder gewinnen, die zum ersten Mal in der Jungsteinzeit nachgewiesen werden konnte. Er könnte sie gewinnen dank Social Media, der vielhundertmillionenfachen Verbreitung seiner Lügen und Typen wie Elon Musk oder J.D. Vance, die in einer Höhle in Lascaux nicht lange überlebt hätten, aber im Digitalzeitalter die großen Maxen sind.

Aber vielleicht ist gerade die Steinzeit-Etikettierung doch keine Auflehnung gegen das Ordnungswesen, sondern Ausdruck der Tatsache, dass wir in der Ära der Übertreibung leben. Die Größe eines Telefonbildschirms ist heute für viele der Maßstab dessen, was sie interessant finden. Eine Zeile wie „Nordkoreas Diktator Kim Jong-un beruft angeblich seine Schwester ins Politbüro“ ist, wenn der Inhalt der Mitteilung stimmt, richtig formuliert, aber klickmäßig reizarm. Schreibt man allerdings: „Nordkoreanischer Steinzeitstalinist betreibt politische Inzucht“, könnte das, was natürlich pessimistisch ist, die FAZ 2035 (oder die SZ 2032) sein. Wer nicht übertreibt, wird heute nur noch wenig gehört. Man muss Sätze und Statements „raushauen“, wie das gerne mit einem Verb beschrieben wird, das gerade Hochkonjunktur hat. Wenn die Metapher heute keine Hyperbel ist, gilt sie als langweilig. Langeweile aber ist im Schreib-mit-zwei-Daumen-Zeitalter fast so schlimm wie die Steinzeit.
Kurt Kister
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