Liebe Leserinnen und Leser,
normalerweise äußern sich Wirtschaftsprüfer nicht öffentlich über ihre Mandanten. In aller Regel dürfen sie das auch gar nicht. Das bringt sie immer dann in eine schwache Position, wenn sie einem Unternehmen das Bilanztestat verweigern und dessen Manager daraufhin unwidersprochen über den Prüfer herziehen. EY hat mit dieser Tradition nun gebrochen und äußert sich mit zum Teil drastischen Worten zum Fall Wirecard – wir haben die ganze Story für Sie.
Trotzdem stellt sich die Frage, ob EY bei einem Bilanzskandal von so gewaltigem Ausmaß nicht zumindest Hinweise hätte sehen können. Die Antwort lautet: Ja, natürlich. Hätte EY das auch sehen müssen? Natürlich nicht! Ein Bilanzprüfer ist kein Forensiker. Und was ist mit den Banken, die Wirecard fast 2 Milliarden Euro Kredit gewährt haben? Mit der Bafin, die schon Anfang 2019 belastende Dokumente von einem Wirecard-Insider erhielt, für deren Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft aber über ein Jahr brauchte und stattdessen die Financial Times anzeigte? Das ist wie ein Kommissar, der einen x-beliebigen Zeugen verhaftet, weil die Ermittlungen gegen den Mörder komplex zu werden versprechen. Was ist mit den Aktionären, die den Börsenwert dieses Saftladens zwischenzeitlich auf über 20 Milliarden Euro hochgejazzt haben? Vor allem mit jenen Aktionären, die selbst dann noch, als die kritischen Hinweise immer ernster wurden, im Internet und in Emails Hass und Häme über diejenigen ausschütteten, die über diese Hinweise berichteten – und sich nichts anderes haben zu Schulden kommen lassen, als eine andere Meinung zu vertreten? Und was ist mit uns Wirtschaftsjournalisten? Im Kreise derjenigen fünf, sechs Kollegen, die Wirecard länger verfolgt haben und das mitunter auch kritisch, waren wir uns mehr oder weniger einig darüber, dass an dem Laden irgendetwas faul sei. Aber den Stein ins Rollen gebracht hat ein Reporter aus England.
Jetzt haben wir den Salat. Noch bis zum 3. September wird die Wirecard-Aktie im Dax notieren. Das ist ein Menetekel an der Wand der alten Frankfurter Börse, für jeden von uns. Der tägliche Blick auf die Kurstafel des Dax sollte uns demütig machen.
Bleiben Sie uns (trotzdem) gewogen!
Ihr Michael Hedtstück |