New York City war Paul Austers Turf, schreibt F.A.Z.-Literaturchef Andreas Platthaus in seinem Nachruf auf den soeben verstorbenen Autor, und er erinnert daran, wie der 1947 in Newark geborene Auster mit „City of Glass“ 1985 auf einen Schlag berühmt wurde – mit einem Roman, der bekanntlich nicht nur jenseits des Hudsons in Manhattan spielt, sondern ein „Stadtporträt ist, bei dem die Topographie zur Geheimbotschaft“ wird. Auster hatte sein Debüt, das später Teil der legendären „New-York-Trilogie“ wurde, dabei so dekonstruktivistisch verschachtelt, dass es zunächst von zwei Dutzend Verlegern abgelehnt worden war.
Schon damals zeigte sich, wie sehr Autor und Figur in diesem Werk verschmelzen. „Was er am liebsten tat, war Gehen“, heißt es in „Stadt aus Glas“: „Er ging nie wirklich irgendwohin, sondern ging einfach, wohin ihn seine Beine zufällig trugen.“ Das traf auch auf Auster selbst zu. Er war ein leidenschaftlicher Spaziergänger, und als er mit Mitte dreißig von Manhattan, wo er inzwischen lebte, nach Brooklyn zog, wurde der Stadtteil östlich des East River zum regelrechten Auster-Land.
Sandra Kegel
Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton.
Leider haben sich unsere Wege nicht gekreuzt, als ich vor Jahren einmal auf den Spuren seiner Romanschauplätze durch Brooklyn wanderte. Ich stand unter der Brooklyn-Bridge, an der Auster-Figuren manch existentielle Entscheidungen treffen, schlenderte durch das elegante Brooklyn Heights und suchte an der 7th Avenue Ecke 3rd Street nach Auggie Wrens Tabakladen. Unvergessen ist Harvey Keitel in der Auster-Verfilmung „Smoke“ von 1995. Er spielte den Zigarettenverkäufer und Alltagsphilosophen, der jeden Tag zur selben Zeit die Straßenecke fotografiert.
Dass es den Laden an der Ecke in Wahrheit nie gegeben hat, überraschte mich nicht. Auch bei einem Autor wie Paul Auster sind Literatur und Realität nicht dasselbe, wie überhaupt das eine niemals auf das andere schließen lässt. Umso aufschlussreicher ist daher der Aufschrei bayerischer Abiturientinnen und Abiturienten auf Tiktok. Im Prüfungsfach Deutsch war ihnen dieses Jahr unter mehreren Möglichkeiten die Aufgabe gestellt worden, ein Gedicht von Jan Wagner zu analysieren: „unterwegs im Nebel“ von 2001. Erschienen ist es 2016 in Wagners Lyrikband „Selbstporträt mit Bienenschwarm“ bei Hanser. Ein Jahr zuvor war der 1971 in Hamburg geborene Dichter der erste seinesgleichen, der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik ausgezeichnet wurde.
„das unwirkliche licht der armaturen erhellte uns spärlich in unseren waben aus blech, die welt war geschrumpft auf die nächste fahrbahnmarkierung“.
Wagners Gedichte reimen sich fast nie, immer sind sie in Kleinbuchstaben verfasst, sie sind bildstark und voller Assonanzen und Alliterationen. Der eigenwillige Rhythmus gibt den Pulsschlag vor.
Dass Abiturienten bei ihren Prüfungen ordentlich ins Schwitzen geraten und sich hernach bitterlich darüber beklagen, ist kein neues Phänomen. Dass sie dies heute allerdings auf Plattformen in Form von Videos und zahllosen Kommentaren tun, lässt uns Zeuge ihrer Klagen werden, als säßen wir im Schüler-Café am Nachbartisch. Viele beschwerten sich da, dass ein zeitgenössisches Gedicht zu interpretieren war. „Lyrik aus 2001 hat mich komplett verwirrt“, sagt eine Schülerin in die Kamera. „Was war das jetzt?“, fragt eine andere: „Romantik, Expressionismus, das hätte ich genommen, aber so ein modernes Gedicht? Kein Reimschema, kein Metrum, nix…“ Andernorts wird befürchtet, nicht gesehen zu haben, was anderen dazu eingefallen ist: „Ich habe geschrieben, was war: Da war halt Nebel auf der Autobahn“.
Doch nicht alle Tiktoker sind im Beschwerdemodus. Es finden sich auch Überlegungen zum Gedicht und seinen Fragen zu Mobilität, Umweltbewusstsein oder Einsamkeit. Wohin geht die Reise? Was bedeutet der „schlaf von jahrhunderten“? Und wird sich der Nebel je lichten? In Frankreich ist es gute Tradition, dass sich das ganze Land über die Fragestellung der Philosophieprüfung im Baccalauréat beugt. Jan Wagner und seine zweifelnden Deuter aus Bayern könnten ein Anlass sein, mit Vollgas in die Gegenwartslyrik einzusteigen. Eine Gedichtinterpretation zum Abschluss der „Tagesthemen“ – warum nicht?
Er war der letzte lebende Protagonist der deutschen Literatur aus Prag: Am Montag ist der jahrzehntelang in Yale lehrende und für die F.A.Z. schreibende Germanist Peter Demetz gestorben. Von Andreas Platthaus
Das Inselidyll hat es so nie gegeben, aber die Touristen haben ihre Erwartungen, die Organisatoren und selbst die Saisonkräfte: Ein Gespräch mit Kristin Höller über ihren Roman „Leute von früher“ – und ein Literaturrätsel. Von Fridtjof Küchemann
Die Schriftstellerin Dörte Hansen hat einen neuen Ton in der deutschen Literatur angestimmt. Im Gespräch erzählt sie über das Leben in den Dörfern, um die Küste und deren Menschen.
Seit fast 50 Jahren leitet Vittorio Klostermann den Klostermann-Verlag. Vor kurzem hat er ihn verkauft. Am 30. April ist sein letzter Arbeitstag. Von Florian Balke
Im April kreisten die Fragen unseres Literaturrätsels um einen einzigen Autor und seine Werke. Das Lösungswort ließ sich auch finden, ohne dass alle acht beantwortet werden konnten. Hier kommen die Einzelantworten für Neugierige.
Jede Woche fragen wir Menschen aus dem Kulturbetrieb, was sie lesen und welches Buch in ihrem Schrank sie ganz bestimmt nicht lesen werden. Diesmal antwortet die amerikanische Politologin Wendy Brown.
Wie erklärt man sich die renitente Reaktion bayerischer Abiturienten auf moderne Lyrik als Abiturthema? Man hat ihnen wohl eingebläut, sie müssten in erster Linie etwas wissen. Und nicht, sie müssten etwas können. Von Jürgen Kaube
Aktuelle Bestseller richten sich oft an junge Erwachsene. Was sind das für Romane, die unter dem Label „Young Adult / New Adult“ dem gebeutelten Markt so stabile Umsätze bescheren? Von Tilman Spreckelsen
Wir müssen lernen, die Freude wiederzufinden: Ein Gespräch mit der senegalesisch-französischen Schriftstellerin Fatou Diome über ihren Erfolg und den Kampf für eine bessere Welt. Von Barbara von Machui
Nicht Siri Hustvedt hat den Tod ihres Mannes Paul Auster bekanntgegeben, sondern die Medien. Die Nachricht habe schon kursiert, „bevor sein Leichnam aus unserem Haus geholt worden war“, beklagt sie sich auf Instagram.
Seine „New-York-Trilogie“ machte ihn weltbekannt, in den letzten Jahren seines Lebens schrieb er seine beeindruckendsten Bücher. Jetzt ist der Schriftsteller Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben. Von Andreas Platthaus
In Würzburg wurde er am 3. Mai 1924 geboren, heute gilt er als der bedeutendste Dichter Israels, und gerade in der schwersten Krise dieses Landes lebt sein Werk fort: Zum hundertsten Geburtstag von Jehuda Amichai. Von Thomas Sparr
„Amrum“ heißt der erste Roman des Filmemachers Hark Bohm. Er erzählt die dramatische Geschichte einer Kindheit, die vielleicht seine eigene ist. Wie es zu diesem Buch kam, ist auch eine Geschichte für sich. Von Tobias Rüther
Von den Alten Griechen über Marx und Habermas bis hin zur Bundesbank: Stefan Eich legt eine politische Ideengeschichte des Geldes vor. Von Jakob Krembzow
Schritt für Schritt zum Glück. Gewinnen Sie einen Aufenthalt im München Marriott Hotel City West – mit Rooftop-Blick über die Alpen & exklusivem Abendessen.
Vom Albert-Schumann-Theater über die Hauptwache bis zum Zeilpalast: Gehen Sie auf spannende Zeitreisen – mit historischen Fotos und aktuellen Aufnahmen.
HRB 7344, Amtsgericht Frankfurt am Main, USt.-IDNr.: DE 114 232 732 Geschäftsführer: Thomas Lindner (Vorsitzender), Dr. Volker Breid Herausgegeben von Gerald Braunberger, Jürgen Kaube, Carsten Knop, Berthold Kohler