Liebe/r Leser/in, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber bei mir breitet sich ein Gefühl des Unbehagens, ja der Sorge aus, dass die Ampelkoalition mit Kanzler Olaf Scholz an der Spitze gerade einen Fehlstart hinlegt. Dabei war der Start von SPD, Grünen und FDP im vergangenen Jahr durchaus verheißungsvoll: Koalitionsverhandlungen in rekordverdächtigem Tempo, keine Durchstechereien und ein ambitioniertes Regierungsprogramm – das hatte etwas Gewinnendes, strahlte Frische aus! Davon ist wenig geblieben. Für mich hat das in erster Linie mit dem Bundeskanzler zu tun. Ein Regierungschef muss – natürlich in Abstimmung mit seinen Koalitionspartnern – sagen, wohin die Reise geht. Das aber tut Olaf Scholz genau nicht. Er ist für eine Impfpflicht für alle ab 18 Jahren, also für gut 70 Millionen Bürger, aber er legt keinen Gesetzentwurf dafür vor, sondern fordert die Bundestagsabgeordneten auf, aus ihrer Mitte Anträge zu stellen. Mit Ethik und Gewissensfreiheit hat das weniger zu tun als mit der Sorge, dass die Ampel vor allem wegen der FDP keine eigene Mehrheit schafft. Nur zum Vergleich: Der in diesen Tagen viel gescholtene Gerhard Schröder hat als rot-grüner Kanzler seine Hartz-IV-Gesetze jedenfalls nicht von den Abgeordneten mittels fraktionsübergreifender Anträge erarbeiten lassen! Ähnlich läuft es in der Außenpolitik: Wenn es nach Grünen und Liberalen ginge, hätte Olaf Scholz in Washington problemlos erklären können, dass Wladimir Putin Nord Stream 2 vergessen könne, sollte er die Ukraine angreifen. Seine Außenministerin Annalena Baerbock, die zeitgleich mit Helm und schusssicherer Weste in der Ukraine unterwegs war, hätte das sicher begrüßt. Doch Scholz muss auf die Befindlichkeiten in seiner Partei Rücksicht nehmen – Manuela Schwesig hat die Gasterminals in ihrem Bundesland. Außerdem steht im Koalitionsvertrag, dass modernste Gaskraftwerke die Lücke schließen sollen, die der Verzicht auf Atom- und Kohlestrom reißt. Und so schwieg Olaf Scholz neben US-Präsident Joe Biden und bei CNN im Interview zum Thema Nord Stream 2 bis zur Peinlichkeit. Es entsteht der Eindruck eines Kanzlers, der sich als Notar der drei Koalitionsparteien versteht: Verlesen wird, was unstrittig ist, alles andere wird beschwiegen oder abgelehnt. Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers gerät darüber in Vergessenheit. In der Außen- und Sicherheitspolitik lässt er sie schmerzlich vermissen. Gerhard Schröder und Joschka Fischer hatten kein Problem damit, die Teilnahme am Irak-Krieg mit einem lauten „Nein“ vor der Weltöffentlichkeit abzulehnen. Scholz scheitert schon daran, eine Impfpflicht durchzusetzen. Für das friedliche Zusammenleben der Koalitionäre mag das Notar-Modell bekömmlich sein, für die Zukunft des Landes ist es eher beunruhigend. In Sachen Corona-Bekämpfung hat Scholz es von Anfang an an Führung fehlen lassen, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die FDP. Und so ist es auch heute: Ein Gericht nach dem anderen kippt die 2G-Regeln im Handel, die Landesregierungen heben sie nach und nach auf. Der Kanzler und sein Gesundheitsminister schauen zu. Mindestens so wichtig ist die Energie- und Klimapolitik. Aussteigen aus Atomkraft und Kohle geht einfach, aber einsteigen in einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien und in modernste Gaskraftwerke ist eine Sisyphusarbeit. Wer das Abschalten aller Kohle- und Atomkraftwerke binnen acht Jahren vorhat, sollte einen genauen Plan haben, bis wann und auf welche Weise realistischerweise die zusätzlichen Windkraftwerke, Solaranlagen und Gaskraftwerke entstehen sollen, damit genügend grüner Strom für all die E-Autos und die klimaneutrale Industrieproduktion vorhanden ist. Leider haben Rot-Grün-Gelb nicht nur hier vor allem Ziele definiert, aber sich mit deren planmäßiger Umsetzung nicht allzu sehr aufgehalten. Dasselbe gilt für die klimagerechte Sanierung der Wohnungssubstanz in Deutschland – ein weiteres Giga-Projekt ohne konkrete Pläne.
Natürlich ist all dies nicht in den ersten 100 Tagen zu erwarten. Doch beunruhigend dabei ist, dass es bislang nicht einmal die Ankündigung für eine Ausführungsplanung gibt. Von allein wird sich der Ausbau der Ladeinfrastruktur für die E-Mobilität jedenfalls nicht um das Siebenfache erhöhen, wie es erforderlich wäre. Stattdessen überrascht uns Außenministerin Baebock diese Woche mit der Ankündigung, sie habe Amerikanerin Jennifer Morgan, die Chefin von Greenpeace International, dafür gewinnen können, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen und das Amt der Klimasonderbeauftragten in ihrem Ministerium zu übernehmen. Alle Auslandsvertretungen Deutschlands würden jetzt Klimabotschaften, jubelte die Ministerin am Mittwoch. Ich frage mich, ob das nicht eher Baerbock als dem Klima hilft. Denn für den Klimaschutz wäre es vor allem wichtig, dass Klima-Großsünder wie China, USA, Indien und Russland mehr Tempo machen. Ob dafür aber eine Greenpeace-Aktivistin die richtige Botschafterin ist, erscheint mir zumindest zweifelhaft. |