| | | | | 29. November 2024 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | in der vergangenen Woche wurde Angela Merkel vorgeworfen, dass sie Angela Merkel ist. Sie hat ihre Autobiografie in Berlin vorgestellt, wobei das Verb âvorstellenâ mich im Zusammenhang mit einem Buch immer etwas irritiert, weil es für meinen Geschmack ein Wort ist, das zu Menschen, aber nicht zu Dingen gehört. Ich stelle Frau Huber jemandem vor, aber eigentlich stelle ich nicht meine neuen Schuhe vor. Oder ein Buch. Bücher, Autos oder Filme werden âvorgestelltâ, damit sie besser verkauft werden. Die Buchvorstellerei zieht oft eine Lesereise nach sich. Verlage animieren ihre Autoren und Autorinnen zu solchen Reisen. Es gibt Schriftsteller, die machen das gern und brillant, wie etwa mein alter Freund Axel Hacke, bei dessen Auftritten sogar ich schon öffentlich gelacht habe, obwohl ich dem lauten Lachen in der Ãffentlichkeit etwa so gegenüberstehe wie dem Angeln: eine Tätigkeit, die manche Menschen gerne ausüben, ich aber nicht. Andere Schreibende (hier stimmt das Partizip Präsens, weil die, die ich meine, immerzu, wahrscheinlich auch jetzt gerade, schreiben) lesen gerne vor Publikum, weil sie im Prinzip gerne vor Publikum leben. Sie gehören zu den extrovertierten, bisweilen eitlen Autoren. Viele Autoren sind allerdings eher introvertiert, obwohl sie gelegentlich ihr Inneres in Büchern nach auÃen kehren. Manche der sich auf Lesereisen extrovertierenden Introvertierten fürchten solche Auftritte, sind aber todunglücklich, wenn es kein âguter Abendâ wird. Die Schriftstellerin auf der Bühne ist manchmal so etwas wie eine Anglerin in der Wüste. Hermann Hesse hat in âDie Nürnberger Reiseâ Grundlegendes zur Lesereise geschrieben. Lohnt sich immer noch. Jetzt bin ich von Frau Merkel abgekommen, was daran liegt, dass ich dazu neige, schreibend zu schwätzen. Menschen, die nicht schwätzgeneigt sind, schreiben keine Kolumnen. Merkel ist nicht schwätzgeneigt, hat aber trotzdem gemeinsam mit Frau Baumann ein dickes Buch über ihr Leben geschrieben. Frau Baumann ist seit Jahrzehnten Merkels Büroleiterin, und selbst wenn Merkel kein Büro hätte, wäre Frau Baumann die Leiterin dieses nicht existierenden Büros. Frau Baumann heiÃt Beate mit Vornamen. Sie könnte auch Frau mit Vornamen heiÃen. Die beiden sind ziemlich symbiontisch, jedenfalls wenn man ihrem Dasein die Wikipedia-Definition zugrunde legt: Symbiose ist âdie Vergesellschaftung von Individuen zweier unterschiedlicher Arten, die für beide Partner vorteilhaft istâ. Ob die Merkel-Art allerdings so unterschiedlich von der Baumann-Art ist, weià ich nicht. Völlig unerstaunlicherweise ist das Buch nüchtern, es gibt keinerlei Kanzlerin-im-Spiegel-Passagen, und man kann kaum etwas darin lesen, was man nicht schon wissen konnte, wenn man sich aus Interesse, beruflicher Pflicht, Zuneigung, Ablehnung oder einer Mischung aus alledem mit Merkel beschäftigt hat. Es ist halt wie Merkel. Aber wie anders sollte es denn sein? Dramatisiert, wie diese oft furchtbaren Miniserien, die man auf den Fernseher strömen lassen kann? Oder hätten die Merkel/Baumann-Symbiontinnen plötzlich Adeptinnen der analytischen Poesie werden sollen? Gar das Merkelleben knausgÃ¥rdisch exhibitionieren? Ich bin ein groÃer Freund von Biografien, aber ein von Erfahrung gebissener Skeptiker gegenüber Autobiografien. Letztere sind fast immer Er-Klärwerke eines Seins, das das Gefühl hat, nicht hinreichend verstanden worden zu sein, obwohl es sich selbst meistens gut verstanden zu haben glaubt. âSie kennen michâ, hat Merkel mal in einem ihrer vielen Wahlkämpfe gesagt. Diese Sicherheit hatte nicht einmal der notorische Autobiograf Goethe, der vor allem als Ãlterer viel darüber geschrieben hat, was er als Jüngerer angeblich erlebt und gefühlt hatte. Nicht einmal er wusste zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Aber so ist das: Wenn man älter wird (Merkel ist jetzt 70), denkt man mehr darüber nach, was war, als was noch sein wird. Auch das kann eine Definition von Autobiografie sein: ein Buch über Vergangenes, mit dem man für die Zukunft festlegen möchte, dass es nicht so war, wie viele in der Gegenwart glauben. Und natürlich auch, dass man damals, als die Vergangenheit Gegenwart war, nicht das Privileg hatte, sie aus der Zukunft zu beurteilen. Politiker und Innen, solche, die etwas waren und solche, die noch etwas werden wollen, schreiben gerne autobiografische Bücher, meistens gemeinsam mit einem Geisterschreiber. Als ich noch ein Büro in der Redaktion hatte, standen dort viele solche Bücher, weil man als politischer Journalist, gar als Chefredakteur, mit diesen Dingen âbemustertâ wurde. Einige waren interessant, und hätte ich noch ein Büro, würde ich Merkels Autobiografie in das Interessant-Regal stellen. Weniger aus literarischen als vielmehr aus zeitgeschichtlichen und eigenbiografischen Gründen. Meistens aber haben diese Bücher ein Schicksal wie der Mensch als solcher: Er wird geboren, lebt und zerfällt dann zu Staub. Gegenüber den Autobiografien haben wir Menschen den Vorteil, dass es von Geburt bis zu Staub viiiiiel länger dauert. Für die nächsten Wochen habe ich mir eine Lenin-Biografie von Victor Sebestyen und eine sehr dicke Bernhard-Shaw-Biografie von Michael Holroyd rausgelegt. Eine von beiden werde ich mindestens beginnen. Merkels âFreiheitâ lese ich später, wenn ich so alt bin, dass ich mich nicht mehr so genau erinnere, ob in der symbiontischen Wahrheit dieses Werks nicht vielleicht auch Dichtung zu finden ist, die ich heute noch nicht zu würdigen wüsste. | |
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