Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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16. August 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
würde jemand sagen „My heart will go on“, der Song aus dem Titanic-Untergangsdrama, sei ein ziemlicher Schmachtfetzen, müsste er damit rechnen, von der großen Céline-Dion-Gemeinde garstig beschimpft zu werden. Allerspätestens seitdem die Kanadierin zu Beginn der Olympischen Spiele in Paris ein Piaf-Chanson brillant und tränenerzeugend auf dem schimmernden Eiffelturm vortrug, zählt sie zu den weltlichen Heiligen der Oh-mein-Gott-wie-krass-Gänsehautmoment-Kirche. Weitere Mitgliederinnen der Säkulargöttinnen-Abteilung dieser Kirche sind Helene Fischer, Adele und natürlich Taylor Swift.

Gänsehautmoment? Ob den befiederten Gänsen, die ihr drohendes Schicksal zu Weihnachten – ein echter Gänsehautmoment – noch nicht ahnen, wohl bewusst ist, wie sehr der Zustand ihrer Epidermis in letzter Zeit von Hinz und Kunz metaphorisch zu Tode geritten wird? Vom Lachen der Kamala Harris über den Tag der Organspende in Freiburg bis zur Sauerländer Fußballnacht – überall findet man im allgegenwärtigen Netz Ereignisse, die als Gänsehautmomente bezeichnet werden. Der Gänsehautmoment ist dabei, die Ikone zu ersetzen, die wiederum den Kult schon verdrängt hat. Oft existieren allerdings auch die Identitätsmerkmale des Großen Geschwätzes parallel: Der Gänsehautmoment beim Auftritt der My-heart-will-go-on-Ikone in Paris ist schon jetzt Kult.

Nun kann die Gänsehaut nicht nur eine Metapher für freudig-gerührte Erregung sein, sondern auch ein Sprachbild für aufsteigenden Schrecken. Ließe sich dieser, der böse Gänsehautmoment verkörpern, käme man zu Donald Trump. Und wie das Leben so spielt, hat sich nun der böse mit dem guten Gänsehautmoment verbunden: Bei einem Auftritt Trumps in Montana wurde als Einmarsch- und Anheizmusik „My heart will go on“ gespielt. La Dion protestierte umgehend, sie wolle ihren Song nicht von den Trumpisten entfremden lassen.

Musik und Politik stehen oft in einem schwierigen Verhältnis, zumal in den USA. Als Bill Clinton 1992 Präsident werden wollte, tönte als offizieller Wahlkampfschlager zwischen Key West und Anchorage permanent „Don’t stop thinking about tomorrow“ von Fleetwood Mac. Auf mich als damaligen US-Korrespondenten hatte der Song bald eine ähnliche Wirkung wie die abscheuliche Rudolf-the-red-nosed-raindeer-Endlosschleife zu Weihnachten. Clintons Nachfolger, der Bush mit dem W im Namen, wollte sich bei Tom Petty bedienen ( „I won’t back down“). Der allerdings drohte Bush eine Klage an, sodass Bush schnell das Gegenteil dessen tat, was der Songtitel verspricht.

Barack Obama war Freund von vielen Show- und Sangesgrößen. Er gewann mit Stevie Wonder, und sein Buddy Bruce Springsteen sang zu Joe Bidens Amtseinführung im Januar 2021. Trump dagegen nannte Springsteen vor ein paar Monaten „einen dieser linken Spinner“. Seit Springsteen 1984 „Born in the USA“ veröffentlicht hatte, musste er sich vieler Versuche von Konservativen, darunter der damalige Präsident Ronald Reagan, erwehren, die den Song als vermeintlich patriotische Hymne vereinnahmen wollten. So etwas ist dieser Song wirklich nicht, er dreht sich vielmehr um das Schicksal eines Vietnamveteranen, der zu Hause nicht mehr auf die Beine kommt. Springsteen hat ihn mal seinen „am meisten missverstandenen Song“ genannt.

Ähnlich missverstanden wurde hierzulande eine Zeit lang „Angie“ von den Rolling Stones. Wenn ich das Lied in der langen Merkel-Zeit gelegentlich bei Wahlkampf-Veranstaltungen hörte, hatte ich Rudolf-the-red-nosed-raindeer-Empfindungen. „Angie“ hatte mit Frau Merkel nichts anderes gemeinsam, als dass manche Leute, gerne solche von der JU, ihren Vornamen als „Angie“ abkürzten. Das Lied ist – siehe oben – ein ziemlicher Schmachtfetzen, in dem ein Typ seine Verfließende melancholisch ansingt („your kisses still taste sweet“). Wenn man sich Mick Jagger vorstellt, der mit Frau Dr. Angela Merkel Küsse austauscht, die immer noch süß schmecken, ist das ungefähr so, wie wenn Markus Söder Taylor Swifts „Cruel Summer“ für Hubert Aiwanger sänge („what doesn’t kill me makes me want you more“).

Für mein Gefühl wäre es am besten, Wahlkämpfer ließen sich von KI mitreißende Melodien und Märsche schreiben. Dann müsste man als Musikfreund nicht Stücke, die man mag, auf Veranstaltungen von Leuten hören, die man nicht mag oder die jedenfalls nicht zu einer Wahlkampfveranstaltung passen. Und die Songs, die passen würden, werden sowieso nicht gespielt. Bei Friedrich Merz hört man nicht Billy Joels „Piano Man“ („Can you play me a memory?/ I’m not really sure how it goes“), bei Olaf Scholz nicht Janis Joplins „Move over“ („You say that it’s over now / but still you hang around“) und bei Robert Habeck nicht Carly Simons „You’re so vain“ („You’re so vain / you probably think this song is about you“). Bei Björn Höcke allerdings gäbe es ein Musikstück, das passte und das er wahrscheinlich auch mag: den Badenweiler Marsch.

Auch musikmäßig ist Trump also ein armes Schwein. Auf Wikipedia gibt es eine Liste von Musikern, die dagegen protestiert haben, dass ihre Musik auf Trump-Veranstaltungen gespielt wird. Die Liste reicht von Adele bis zu den White Stripes. Für Trump mag, außer dem alkoholfreundlichen Kid Rock, niemand singen. Jetzt müssten ihn nur noch weniger Leute wählen.

Mit dieser Kolumne geht der Deutsche Alltag in eine Pause. Die wird bis Mitte September dauern, wenn nichts dazwischenkommt.
Kurt Kister
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