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Liebe/r Leser/in,

ich kann mich nicht daran erinnern, wann mein Vater mich zuletzt ausgeladen oder rausgeschmissen hätte, am Palmsonntag war es jedenfalls so weit. „Bleibt bloß fort, ihr Berliner Seucher“, hatte er am Telefon verkündet. Es sollte lustig klingen, führte jedoch zum selben Ergebnis: Der Osterbesuch war abgesagt. Offiziell. Cancel Culture auf Schwäbisch.

Bevor wir (oder vielmehr die Oma) protestieren konnten, schob er noch schnell hinterher: „Im nächsten Jahr gibt’s auch wieder Ostern! Regt euch ab!“ Der Ehne (schwäbisch für Opa) hatte gesprochen: Bei den Rohleders in Echterdingen wird erst wieder umarmt, wenn die Ahne und der Ehne geimpft sind.

Am anderen Ende des Schönbuchs sind die Leute nicht so zimperlich. Dort, zwischen dem früheren Zisterzienserkloster Bebenhausen und dem Albanstieg, liegt „die kleine große Stadt Tübingen“ (Walter Jens), das schwäbische Oxford, ein herrlich rechtschaffener Ort, der von seinen braven Einwohnern für seine hohe Lebensqualität zwischen Stiftskirche, Schloss und Epplehaus geschätzt wird. Sollte dort tatsächlich mal ein Graffiti auftauchen, dann obrigkeitshörig und in Kreide: „Kein Gott, kein Staat, kein Wurstsalat“.

Doch seit der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer seine Stadt mit Schnelltests bewaffnet zu einer Art Freien Republik Tübingen, einem „Experiment mit offenem Ausgang“ erklärte, umwehte meine alte Unistadt ein geradezu revolutionärer, freiheitlicher Geist.

So schauten wir vermutlich alle in den vergangenen Tagen doch ein wenig neidisch auf die Nachrichten aus diesem Corona-Wunderland, wo man dank Tagesticket und nach negativem Schnelltest wieder in Biergärten sitzen oder bei „Adina“ mit Prosecco anstoßen und ins Landestheater gehen kann; wo gezeigt wird, wie unser Leben mit oder vielmehr trotz Pandemie gelingen kann. Die Euphorie für das „Tübinger Modell“ schoss noch schneller nach oben als der Kurs des Bitcoins. Auf einmal wollten alle Tübinger sein, selbst die von Natur aus eher vorsichtige „Süddeutsche Zeitung“ titelte „Mehr Tübingen wagen?“. Und manch Tübinger Gastronom soll gerüchteweise kurz davor stehen, eine Petition einzubringen, den Palmsonntag doch bitte schön fortan als Palmersonntag dem großen Freiheitskämpfer der Stadt zu widmen.

Aber auch der andere Blick sei gestattet: So berichten Tübinger Ureinwohner zunehmend entnervt von hundert Meter langen Schlangen vor den Teststationen, davon, dass die Touristen alle Cafés, Ufer und Kneipen belagern. Alles eher ärgerlich, denn leider ist selbst Tübingen nicht gegen steigende Inzidenzen immun: Mitte der Woche lagen diese bei 78 – im Kreis war man da schon dreistellig, weshalb schließlich am Mittwochabend das Tagesticket für auswärtige Gäste kassiert wurde. Fragt man allerdings den OB, gehen die Zahlen nicht aufs Einkaufen oder den Theaterbesuch zurück. Problematisch seien jene, die nach 20 Uhr noch Party machten, oder, eh klar, die Geflüchteten. Da blitzt er wieder mal auf, der Law-and-Order-Palmer.

Dass jeder Test den schwäbischen Steuerzahler 15 Euro kostet, dürfte im Tübinger Rathaus ähnlich schlecht ankommen wie die Berichte darüber, die Wissenschaftlichkeit der begleitenden Studien des Tübinger Experiments seien eher fragwürdig. Ein Klemmbrett allein macht eben noch keine Studie. Auch nicht am Wissenschaftsstandort Tübingen.

Aber vielleicht ist im Jahr zwei mit Corona ein optimistisches Grundansinnen wichtiger als Erkenntnisse fürs Lehrbuch: Selbst wenn die Ergebnisse durchwachsen ausfallen, wird der notorische Rechthaber dastehen und nach Berlin rufen: „Seht her, es geht auch anders!“

Wobei Palmer trotz aller Polemik (bei Zweifeln bitte Flüchtlinge, Deutsche Bahn oder Student und Palmer googeln) kein grüner Sarrazin ist. Der freie Radikale bleibt nur sich treu. So auch am Dienstag, als er binnen kürzester Zeit vom Apologeten der neuen Lässigkeit zum Spaßverderber wurde und eine Flughafen-Quarantäne nach chinesischem Vorbild für alle Ballermänner ins Spiel brachte. Palmer gegen Palmen quasi.

Möglicherweise bedarf es ja genau dieser Qualität, um die schwer erträgliche Happiness-Blase der Berliner Grünen mit der Wirklichkeit zusammenzubringen. Mit Palmers Einbindung wäre den Bundesgrünen eine ständige Disruption von innen heraus sicher.

Zukunft wird aus Mut gemacht, heißt es bei den Grünen.

Glaube, Hoffnung, Liebe, heißt es bei Paulus.

Ohne Hoffnung wird’s schwierig, heißt es bei Schäuble.

Im ganzen Land, nicht nur im Ländle, möchte man rufen.

Und: Frohe, besinnliche Ostern!

Auch dir, mein Vater.

Mit vielen Grüßen

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Jörg Harlan Rohleder
stellvertretender Chefredakteur FOCUS Magazin



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