Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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10. November 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
in der zweiten Hälfte der Nacht, die Frank Sinatra mal als the wee small hours of the morning besungen hat, bekämpfe ich den Schlaflosigkeitsdämon gerne mit dem Deutschlandfunk (DLF). Das soll jetzt nicht bedeuten, dass der DLF so langweilig ist, dass er vor allem ein gutes Schlafmittel wäre. Aber die DLF-Sendung „Das Kalenderblatt“ ist für mich, ganz subjektiv, die ideale Kombination aus Bildungsmittel und Sedativum. Im alten Radio, das, wie das heute heißt, noch linear sendet, läuft das Kalenderblatt morgens nach den Neun-Uhr-Nachrichten. Auf dem Telefon oder vergleichbaren Geräten, irgendwelchen Pods also, kann man es jederzeit abrufen, zum Beispiel um 3 Uhr 47, was eine wirkliche wee small hour ist.

Ein Einschub: Was ich manchmal nicht verstehe, ist die Radioferne etlicher Intendanten und von noch mehr Unterintendantenhierarchen der Öffentlich-Rechtlichen. Man hat den Eindruck, das seien alles irgendwie Fernsehschädel. Zwar wird das Radio gerne mal gefeiert – es ist gerade 100 Jahre alt geworden –, aber im Prinzip heißt Fortschritt bei vielen Hierarchen und Innen zumeist Bewegtbild im Netz und in der sogenannten Mediathek. Dabei bietet das Netz gerade dem gesprochenen, gesungenen, geknurrten, vorgelesenen, gesäuselten Wort ideale Ausgangsvoraussetzungen. Radio hören, und im Radio eben nicht nur Musik, ist wie Lesen mit den Ohren, wohingegen Bewegtbildschauen so was ist wie Bratwurstessen mit den Augen. Als Nichtunbedingtbewegtbildfreund stelle ich hiermit autoritativ fest: Die Zukunft des anspruchsvoll bleibenden öffentlich-rechtlichen Rundfunks liegt mindestens genau so viel im Hören wie im Sehen. Eigentlich mehr im Hören.

Das Netz ist für das Radio der Zukunft der ideale Distributionsapparat, nahezu ohne technische Beschränkungen. Man muss nur genügend Dinge machen, die man früher „Sendungen“ nannte, und nicht unbedingt alles in einen gut durchhörbaren – das ist eines dieser schröcklichen Hierarchenworte – Audioteppich verweben. So, genug gepredigt.

Das DLF-„Kalenderblatt“ also erzählt einem jeden Tag von einem Menschen oder einem Ereignis, der oder das mit dem jeweiligen Sendetag in Beziehung steht. Das ist meistens lehrreich, manchmal skurril und selten auch ein bisschen peinlich (wenn Humor versucht wird, gar ein Aprilscherz). Nachts sind mir die liebsten Kalenderblätter die, die nicht besonders lebhaft oder gar stark moduliert vorgetragen werden. Bei den modulierten schläft man nämlich nicht ein. Wenn ich aber drei Fünf-Minuten-Stücke über Rudolf Augsteins 100. Geburtstag, über den 25. Todestag der Erfinderin der Einmalwindel sowie über die Gründung der EU vor 30 Jahren hintereinander anhöre, fällt es mir schwer, nicht wegzudämmern, obwohl meine Morgengrauendämonen sehr lange Hörner haben und Schwefeldämpfe ausatmen.

Gute Podcast-Sedative sind auch die Bildungskanon-Gesprächsrunden des von mir nahezu bewunderten BBC-Moderators Melvyn Bragg ( „In Our Time“), die man unbedingt auch im wachen Zustand hören sollte. Es gibt da immer drei sehr kundige Gäste, oft, aber nicht nur Oxbridge-Professorinnen und -Dozenten, mit denen Bragg über so unterschiedliche Dinge wie die Nikomachische Ethik, Thomas Manns „Tod in Venedig“ oder auch das Elektron spricht. Das alles findet fern jeglichen Prechtimismus statt, Geschrei gibt es nie (wichtig für die Einschlaffunktionabilität). Nein, das ist kein Podcast „für alle“. Aber 1) muss man nicht unbedingt nur Sendungen für alle machen (oder Artikel für alle schreiben). Und 2) bin ich, gerade wenn ich nicht einschlafen kann, auch nicht alle, sondern ziemlich allein.

Und dann habe ich noch einen weiteren Einschlaffavoriten, den ich im Kosmos der Podcasts gefunden habe. Der italo-amerikanische Kunsthistoriker Rocky Ruggiero – was für ein großartiger Name – macht einen Podcast, der „Rebuilding the Renaissance“ heißt. In mittlerweile mehr als 250 Folgen beschäftigt sich Rocky auf Englisch – ich habe ihn so oft nachts gehört, dass ich ihn beim Vornamen nenne – so interessant mit Michelangelo und Tizian, mit Rom, Florenz und Siena, dass mir sein benvenuti a tutti zuerst Erkenntnisse und bald auch Ruhe verspricht. Er hat zwar eindeutig florentinische Schlagseite, was mir, der ich möglicherweise in einem anderen Leben im Jahre 1555 zu den letzten Verteidigern Sienas gegen das florentinisch-kaiserliche Heer gehörte, manchmal unangenehm ist. Nachts aber ist das nicht so schlimm.

Rocky und das „Kalenderblatt“ helfen nachts nicht immer. Und es gibt bestimmt auch noch viel mehr gleichfalls, wenn auch nicht gleichzeitig anregende und sedierende Podcasts. Wahrscheinlich sagen manche Schlafforschende – in diesem Zusammenhang ist das Partizip Präsens als angeblich gerechtigkeitsschaffendes Substantiv besonders eigenartig –, dass man nachts kein Zeug hören soll, weil es nur vom Schlafen ablenkt. Andererseits ist es ja oft so, dass die Nacht selbst vom Schlafen ablenkt. Wenn dann auch noch die Dämonen dazukommen, die eindeutig nachtaktiv sind, bleiben zumindest mir nur Rocky und das „Kalenderblatt“.

Seit dieser Woche weiß ich übrigens, dass die Erfinderin der Einmalwindel Marion Donovan hieß. Was mit Augstein war, habe ich vergessen. Vielleicht bin ich sogar bei Rudolf eingeschlafen. Das hätte ich zu dessen Lebzeiten auf keinen Fall getan.
Kurt Kister
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